: Für einen neuen Öko-Keynes
Wenn Europa mehr Arbeitsplätze will, muss es sich verschulden – und in Klimaschutz investieren. Falls der Versuch nicht funktioniert, wurde wenigstens dem Klima geholfen
Norbert Templ, 46, arbeitet bei der Kammer für Arbeiter und Angestellte in Wien in der Abteilung „EU und Internationales“. Bei dem vorliegenden Text handelt es sich allerdings um seine persönliche Auffassung.
Bis 2010 soll die EU der stärkste wissensbasierte Wirtschaftsraum der Welt werden, so haben es die Staats- und Regierungschefs im Jahr 2000 in Lissabon mit ihrer Strategie der wirtschaftlichen und sozialen Erneuerung Europas beschlossen (Lissabon-Strategie). Ziele sind unter anderem eine Gesamtbeschäftigungsquote von 70 Prozent, eine höhere Forschungsquote sowie mehr Kinderbetreuungsplätze.
Sieben Jahre später ist die Bilanz ernüchternd. Selbst die EU-Kommission geht davon aus, dass das Gesamtbeschäftigungsziel beim gegenwärtigen Tempo erst 2020 erreicht werden kann. Insgesamt fehlen noch 20 Millionen Arbeitsplätze. Was läuft falsch? Sind die Ziele illusorisch oder mangelt es nur an der Umsetzung?
Die Lissabon-Strategie setzt voraus, dass die EU-Wirtschaft jährlich um 3 Prozent wächst, wie auch der Europäische Rat mehrmals bestätigt hat. Seit 2001 ist diese Wachstumsrate im EU-Durchschnitt jedoch nicht mehr erreicht worden. Neoliberale Konzepte konnten daran nichts ändern – wie etwa verlängerte Arbeitszeiten, weniger Urlaub, Lohnsenkungen bei Geringverdienern oder Steuersenkungen. Naheliegend wäre, es wieder mit Keynes zu versuchen und die Binnennachfrage durch öffentliche Investitionen anzukurbeln.
Was aber, wenn auch mit Keynes kein dauerhafter, sich selbst tragender Konjunkturaufschwung erreicht werden kann – weil hochentwickelte Volkswirtschaften mit abnehmenden Wachstumsraten konfrontiert sind? Horst Afheldt hat nachgewiesen, dass das Sozialprodukt in Deutschland in jedem Jahrzehnt seit 1950 um rund 300 Milliarden gewachsen ist. Wenn der absolute Zuwachs im Durchschnitt jedoch nur linear verläuft, dann fallen die prozentualen Wachstumsraten. Daran haben auch verschiedene Konjunkturprogramme und permanente Reformpolitik nichts ändern können. Dennoch ist dies kein Grund zur Panik, denn der absolute Zuwachs bleibt ja stabil. Die Warnung vor dem ökonomischen Niedergang gehört zu den neoliberalen Mythen.
Lineares Wachstum mit sinkenden Wachstumsraten scheint das Schicksal entwickelter Volkswirtschaften zu sein. Afheldt spricht vom „Gesetz des linearen Wachstums“. Exponentielles Wachstum – also konstant hohe prozentuale Wachstumsraten über einen längeren Zeitraum hinweg – sind in der Regel typisch für die Anfangsjahre einer industrialisierten Volkswirtschaft, wie es gegenwärtig in China zu beobachten ist, aber auch in den osteuropäischen Staaten. Ein Ausnahmefall sind die Vereinigten Staaten, was laut Afheldt mit der dortigen Bevölkerungszunahme zu erklären ist.
Ob der Trend langfristig sinkender Wachstumsraten stimmt, ist allerdings höchst umstritten. Es gilt daher, weiter nach den Ursachen für das schwache Wachstum zu fanden. Seit Jahren ist Europa eine Großbaustelle permanenter struktureller Reformen, dennoch fallen die Wachstumsraten im Durchschnitt bescheiden aus. Könnte die hohe Arbeitslosigkeit in Europa nicht am Übergang vom Realkapitalismus zum Finanzkapitalismus und an einer falsch konzipierten makroökonomischen Politik liegen?
Finanzkapitalismus bedeutet, dass mehr Geld vom Realgütermarkt zum Finanzgütermarkt transferiert wird. Ökonomen verorten diesen Übergang Anfang der 1980er-Jahre, als die Notenbanken die Leitzinsen drastisch erhöhten. Damit stieg das reale Zinsniveau über die Wachstumsrate, was die Investitionen der Unternehmen in der Realwirtschaft dämpfte und das Kapital zunehmend in die Finanzmärkte drängte.
Damit begann eine Entwicklung, die zumindest teilweise erklärt, warum die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht: Wenn die Besitzeinkommen schneller wachsen als die Gesamtwirtschaft, dann findet eine Umverteilung zugunsten der Gläubiger statt. Das heißt: Ein immer größerer Teil des jährlichen Zuwachses des Bruttoinlandsproduktes fließt zu den Vermögenden – auf Kosten der Arbeitnehmer, deren Lohnquote seit Jahren sinkt. Gleichzeitig sinken die Investitionen des Staates, weil er immer mehr für den Schuldendienst aufwenden muss. Beides führt zum Rückgang des Wirtschaftswachstums und damit zum Anstieg der Arbeitslosigkeit.
Nötig ist deswegen ein makroökonomischer Kurswechsel, nämlich eine Änderung des vorherrschenden Politikmixes aus Geld-, Finanz- und Lohnpolitik. Die Europäische Zentralbank (EZB), die das Zinsniveau autonom bestimmt, müsste dafür sorgen, dass der reale Zinssatz immer unterhalb der Wachstumsrate liegt, statt wie bisher nur die Preisstabilität im Euro-Raum sicherzustellen. Die Fiskalpolitik in der Euro-Zone ist aber auch durch die Vorgaben des Euro-Stabilitätspakts gelähmt, der verlangt, dass die Neuverschuldung nur 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts betragen darf. Um es auf den Punkt zu bringen: Die EZB bremst die Investitionstätigkeit der Unternehmen in die Realwirtschaft; der Stabilitätspakt bremst die Investitionstätigkeit und den Konsum der Staaten.
Zusätzlich wirkt sich auch die Steuerpolitik wachstumshemmend aus, und es ist kein Ende des europaweiten Steuerdumpings in Sicht: Demnächst wird der Bundestag die Konzerne erneut entlasten und den Steuersatz für Kapitalgesellschaften von 25 auf 15 Prozent senken. Diese Steuergeschenke führen jedoch nicht automatisch zu mehr Investitionen, aber zu Mindereinnahmen im Staatshaushalt. Alles zusammen dämpft die Binnennachfrage.
Dabei wäre es Zeit für eine mutige Doppelstrategie: Versuchen wir im Sinne von Keynes durch öffentliche Investitionen die Wachstumsdynamik zu verstärken und kombinieren wir das gleichzeitig mit einer expansiven Geldpolitik und einer Änderung des Stabilitätspakts. Der Steuerwettbewerb auf europäischer Ebene sollte durch die Einführung von Mindeststeuersätzen abgemildert werden.
Allerdings muss der Keynesianismus weiterentwickelt werden. Wir können angesichts des hohen Verschuldungsgrads der Volkswirtschaften nicht jede Steigerung der öffentlichen Ausgaben gutheißen. Warnende Beispiele sind die wirkungslosen massiven staatlichen Konjunkturprogramme in Japan in den 1990er-Jahren oder der massive Finanztransfer von West- nach Ostdeutschland, der bis jetzt keinen selbsttragenden Aufschwung ausgelöst hat.
Was wir brauchen, ist eine Art Öko-Keynes – eine europaweit koordinierte öffentliche Investitionsoffensive zur Ökologisierung der Wirtschaft und zur Bewältigung des Klimawandels. Die Umweltproblematik spielte zu Zeiten Keynes noch keine Rolle, insofern muss seine Theorie an die Gegenwart angepasst werden. Selbst wenn das nicht mehr Wachstum und Beschäftigung bringen sollte – öffentliche Investitionen in erneuerbare Energien, öffentlichen Verkehr oder umweltfreundliche Technologien sind angesichts der herannahenden Klimakatastrophe ohnehin dringend nötig.
NORBERT TEMPL
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