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Polizeiärztin übt sich in Ferndiagnose

FLÜCHTLINGE Ärzte protestieren gegen das Aushungern und -dürsten der Flüchtlinge in der Gürtelstraße. Die Polizeiärztin sagt, sie untersuche die Protestler – doch die wissen nichts davon

Jürgen Hölzinger ist wütend: „Jeder Mörder wird besser behandelt.“ Mit rund 30 KollegInnen steht der pensionierte Arzt im weißen Kittel am Polizei-Absperrgitter in der Gürtelstraße, wo seit zwölf Tagen Flüchtlinge auf dem Dach eines Hostels ausharren. Hölzinger hält eine Wasserflasche hoch, einen halben Liter. „Können Sie sich vorstellen, dass das für einen Tag bei den Temperaturen reicht?“, fragt er.

25 Grad zeigt das Thermometer am Samstagnachmittag, der Himmel ist wolkenlos. Ein halber Liter pro Kopf, das sei die tägliche Ration, die die Polizei nach Aussage der Flüchtlinge auf das Dach kommen lässt, erklärt Hölzinger. Nahrung sei ihnen nur in Form von ein paar Keksen zugestanden worden. Für den Arzt und seine KollegInnen vom Arbeitskreis Gesundheit und Menschenrechte Berlin ist die unzureichende Versorgung der Flüchtlinge durch die Polizei „menschenverachtend und lebensgefährlich“. Es könne leicht passieren, dass einer der Flüchtlinge dehydriere und bewusstlos vom Dach stürze, sagt Hölzinger.

Gemeinsam mit der Organisation Ärzte zur Verhinderung eines Atomkrieges (IPPNW) hat der Arbeitskreis zur Aktion „Wasser aufs Dach“ aufgerufen. Die MedizinerInnen forderten Zugang zu den Menschen auf dem Dach, um sie mit Wasser und Lebensmitteln versorgen und sie ärztlich untersuchen zu können.

Doch die Polizei lässt niemanden durch. Ein Sprecher erklärt den vor dem Absperrgitter versammelten ÄrztInnen, die Flüchtlinge würden mit Wasser und Essen versorgt werden. Auch eine Polizeiärztin sei vor Ort, so der Polizist. Thea Jordan von IPPNW verlangt, mit der Polizeiärztin zu sprechen. Eine halbe Stunde lang verhandelt sie schließlich mit ihr und dem Einsatzleiter der Polizei.

Der bleibt stur: Die ÄrztInnen dürfen nicht aufs Dach. Wie viel Nahrung und Trinkwasser die Flüchtlinge tatsächlich bekommen, wollte die Polizeiärztin gegenüber Jordan nicht sagen. Aber keiner der Flüchtlinge auf dem Dach zeige Anzeichen von Dehydrierung, gibt Jordan die Aussagen der Polizeiärztin wieder. Das wisse sie, weil sie die Männer regelmäßig ärztlich betreue. Einer der Unterstützer vor dem Zaun ruft den Männern auf dem Dach zu, ob sie schon von einem Arzt untersucht worden wären. „No doctor“, rufen die Männer vom Dach, einen Arzt hätten sie noch nicht zu Gesicht bekommen.

Der Polizeieinsatzleiter, erzählt Thea Jordan, habe ihr zudem gesagt, sie, die ÄrztInnen vor dem Absperrgitter, würden eine Gefahr für die Flüchtlinge auf dem Dach darstellen. „Weil sie uns zuwinken und umherspringen, würden sie sich selbst in Gefahr bringen“, gibt Jordan den Polizisten wieder. „Das ist an Zynismus kaum zu überbieten von jemandem, der Menschen Nahrung und Trinkwasser verweigert.“ FELIKS TODTMANN

Nachtrag: In der Nacht zum Sonntag hat der an Tuberkulose erkrankte Mohamed S. seinen Protest aufgegeben. Damit befinden sich jetzt noch fünf Männer auf dem Dach.

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