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Keine Zeit zum Scheißebauen

Ein Jahr nach dem Hilferuf ihrer Lehrer lud die Rütli-Schule gestern zum Tag der offenen Tür. Getan hat sich viel. Etwa dass Rütli-Schüler jetzt sogar in den Ferien in die Schule kommen – freiwillig

VON ALKE WIERTH

„Ich will ewig leben, ewig lernen, habe keine Langeweile“ – optimistischer Hiphop schallt aus großen Boxen vor den Türen der Rütli-Schule. Genau ein Jahr nachdem der „Brandbrief“ der Rütli-Lehrer die Nation erschütterte, lud die Neuköllner Hauptschule gestern zum Tag der offenen Tür. Hunderte kamen, u. a. der Neuköllner Bürgermeister Heinz Buschkowsky, Bildungsstadtrat Wolfgang Schimmang (beide SPD), der Exkultursenator Thomas Flierl (PDS) sowie zahlreiche Kamerateams, Fotografen und Journalisten. Bildungssenator Jürgen Zöllner (SPD) hatte bewusst auf sein Erscheinen verzichtet – er wolle „Effekthascherei vermeiden“, ließ er mitteilen.

Mit Steinwürfen mussten die Gäste diesmal nicht rechnen. Stattdessen boten ihnen allerorten SchülerInnen höflich Info-Flyer an oder wiesen den Weg zu diversen Veranstaltungen. „Unsere Stimmung ist optimistisch.“ Gut gelaunt wiederholt Schulleiter Aleksander Dzembritzki den Satz in immer neue Mikrofone. Seit fünf Monaten ist der 38-Jährige nun an der Rütli-Schule – vom Lübecker Hauptschullehrer wurde er damit zum bekanntesten Schulleiter Deutschlands.

Bewegt hat er einiges, wenn auch, wie Dzembritzki bescheiden anmerkt, sein Vorgänger Helmut Hochschild, der die Schule kommissarisch von April bis Oktober 2006 leitete, bereits „Wahnsinnsvorarbeit hingelegt“ habe. Eine Schülerfirma, die selbstbedruckte T-Shirts mit dem Rütli-Label herstellt, eine preisgekrönte Internetseite gegen Gewalt, SozialarbeiterInnen türkischer und arabischer Muttersprache – von dem Bild, das vor einem Jahr von der Rütli-Schule gezeichnet wurde, ist nicht mehr viel übrig.

„Was hat sich denn für euch geändert im letzten Jahr?“, fragt ein Fernsehteam drei Schüler. Die müssen nicht lange überlegen: „Wir haben jetzt so viele Projekte und AGs hier, wir haben gar keine Zeit mehr, Scheiße zu bauen“, sagt einer.

Dafür sorgt unter anderem auch das MSA-Projekt der Schule. Wer den Mittleren Schulabschluss schaffen will, bekommt dort Extraförderung. StudentInnen bieten die Nachhilfe an – ehrenamtlich viermal in der Woche. Sogar in den Ferien wird weitergelernt: Täglich drei Stunden lang wollen die SchülerInnen im „Feriencamp“ büffeln. Mehr als 80 Prozent der MSA-Kandidatinnen nehmen das Angebot wahr.

„Den Raum dafür haben sie selbst organisiert“, erzählt Jillian Hoppe zufrieden. Die 24-jährige Studentin der Islamwissenschaften ist eine der MSA-TrainerInnen. Zusätzlich hat sie als Mentorin noch die Einzelbetreuung einer Schülerin übernommen – das MentorInnenprojekt ist ein weiteres der neuen Projekte an der Rütli-Schule. Es gehe darum, den Horizont der Jugendlichen zu erweitern, die oft sehr eingeschränkte Vorstellungen von ihren Zukunftsaussichten hätten, meint Jillian. Aber auch darum, ihnen einfach mal ein Lob auszusprechen, sie zu ermutigen.

„Ich will nicht so tun, als sei alles Friede, Freude, Eierkuchen“, sagt Schulleiter Dzembritzki zum Schluss. Er hat es während der zweistündigen Veranstaltung kaum geschafft, sich auch nur ein paar Meter von seinem Standort auf dem Schulhof zu entfernen – zu groß ist der Andrang der Interviewer. Wer von der Rütli-Schule komme, habe massive Probleme bei der Lehrstellensuche, meint Dzembritzki: „Klar sind wir stigmatisiert.“

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