piwik no script img

mail aus manilaDurch Piraterie wird Cinephilie erst möglich

Im Stadtteil Quiapo werden raubkopierte DVDs verkauft – „Rocky Balboa“ genauso wie internationales Avantgardekino

Es gab einmal eine Zeit, da war der Stadtteil Quiapo die schickste Einkaufsgegend in ganz Manila, der Hauptstadt der Philippinen. Um 1900 warteten auf der Straße Escolta – spanisch für „Begleitung“ – die Dienstmädchen und Kutscher auf ihre Herrschaft, die in den umliegenden Straßen Spezialitäten und die neueste Mode aus Europa einkaufte. Auf den Kanälen, die den Stadtteil durchziehen, wurde von Booten Reis und Essig verkauft. Bis in die Sechzigerjahre hinein ging die Upper Class von Manila auf dem Carriedo Boulevard in Quiapo schoppen. Davon zeugen noch die Warenhäuser, heute vergammelt, aber noch erkennbar im futuristischen Sixties-Design.

Alles vorbei. Die Oberschicht ist aus der Innenstadt, in der Quiapo liegt, in die Vororte gezogen, und geht in riesigen Shopping-Malls Prada-Handtaschen und Gucci-Schuhe einkaufen. Quiapo wurde der masa überlassen, der Masse der Ärmsten der Armen. Gehandelt und verkauft wird hier immer noch, nur keine europäische Mode und keine Spezialitäten mehr. In Quiapo gibt es nur noch eine Art von Produkten: illegale DVDs und CDs. Der Name des Stadtteils ist heute ein Synonym für die Film- und Musikpiraterie, die in ganz Südostasien ein blühender Geschäftszweig ist und gerade in den armen Philippinen einen riesigen Markt hat. Während es bei Tower Records legale DVDs ab zehn Euro aufwärts gibt, bekommt man hier einen Film schon für weniger als einen Euro. Ein unbespielter DVD-Rohling kostet im Laden dasselbe. Trotzdem scheinen beim Großverkauf saftige Gewinne möglich. Beobachter schätzen, dass über die Hälfte der DVDs und CDs, die auf den Philippinen verkauft werden, Piratenware sind.

Neue Filme findet man hier schon Wochen, bevor sie ins Kino kommen. „Star Wars“, „King Kong“, „Superman Returns“, „Rocky Balboa“ – in Quiapo waren sie schon zu kaufen, als in den Kinos gerade die ersten „Coming soon“-Plakate aufgehängt wurden. Immer beliebter werden die so genannten Sampler, bei denen auf einer DVD etwa alle drei „Matrix“-Filme samt Bonusmaterial sind, oder gleich zehn Filme mit Hongkongstar Chow Yun Fat. Auch teure Markensoftware ist für knapp einen Euro zu bekommen. Spiele für die Playstation oder die XBox stapeln sich ebenfalls in den Läden von Quiapo.

Auf den Bürgersteigen drängt sich in der feuchten Hitze ein winziger Stand neben dem anderen. Und in den ehemaligen Bürohäusern, die zu Piratenbasaren umgebaut worden sind, türmen sich in kleinen Läden die CDs und DVDs. Die Wände sind mit den Covern von Neuerscheinungen tapeziert. Die Filme werden in der Regel nicht in DVD-Boxen verkauft, sondern wie Wegwerfprodukte in Plastikumschlägen. Das spart Platz.

Die meisten Läden werden von Familien aus Mindanao, der muslimischen Insel im Süden der Philippinen, betrieben. In einem sitzt eine Großmutter mit Kopftuch auf dem Boden und tütet DVDs in Schutzhüllen ein. Neben ihr liegt ein Baby auf einem Stück Pappe neben einem Stapel japanischer Horrorfilme und schläft. Ein Ventilator dreht sich langsam. Zwei Frauen am Eingang rufen Passanten die Titel der neu eingegangen Filme zu, drinnen verhandelt das Familienoberhaupt mit den Kunden über den best price. Nachdem man den Verkäufern erklärt hat, dass man an den Pornofilmen unter ihren Tresen nicht interessiert ist, kann man in Quiapo echte Schätze heben. Die Box mit den wichtigsten Filmen von Akira Kurosawa hat inzwischen fast jeder Filmfan in Manila. Schon schwerer ist die Sammlung von Kurosawas Zeitgenossen Mizoguchi zu finden, die leider auch nur französische Untertitel hat.

Wer viel Glück hat, findet einen der chinesischen Stummfilmklassiker aus den Zwanzigern, die den Vergleich mit den Filmen von Friedrich Murnau oder G. W. Papst nicht zu scheuen brauchen. Chaplin, Buster Keaton, Hitchcock, Godard, Fassbinder, John Ford, Bergman, Rossellini gibt es für Spottpreise in Pappkartons. Die meisten von ihnen enthalten die makellosen, digital restaurierten Filmversionen des amerikanischen DVD-Qualitätslabels Criterion Collection. Keinen dieser Filme gibt es in Manila auf legalem Weg zu kaufen. Die DVD-Läden führen fast ausschließlich Hollywoodware oder Actionfilme aus Hongkong. Dass es im Dritte-Welt-Land Philippinen ein Publikum für europäische Autorenfilme und internationales Avantgardekino gibt, haben erst die Filmpiraten gezeigt.

TILMAN BAUMGÄRTEL

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen