YOANI SÁNCHEZ POLITIK VON UNTEN: Kleine Löcher im Wasserbeutel
Der kubanischen Regierung fällt es immer schwerer, unbequeme Informationen geheim zu halten
Immer leichter geraten Informationen aus den geschlossenen, offiziellen Aktenschränken an jene Öffentlichkeit alternativer Netzwerke, in denen die Nachrichten pausenlos die Runde machen. In Hülle und Fülle kommen – und nicht nur auf Wikileaks – wohl gehütete und eifersüchtig bewachte Geheimnisse heraus.
Diese Welle von Enthüllungen könnte uns glauben machen, dass wir in Kuba gerade eine richtige Öffnung erleben – aber nicht so wie die Spanier Ende der 1970er Jahre. Die unsere besteht vielmehr aus den bisher im Dunklen gehaltenen Details unserer Geschichte, die in der Staatspresse verschwiegen wurden. Eine der skandalösesten Enthüllungen der letzten Zeit war im Januar 2010 die des Todes von mehr als 30 Patienten der psychiatrischen Klinik Havannas wegen Entkräftung und Kälte. Rund 300 Fotos, die während der Autopsie aufgenommen worden waren, zeigten den Grad an Verwahrlosung und Misshandlung, denen diese Menschen zu Lebzeiten ausgesetzt waren. Bis heute weiß man nicht sicher, wer diese Bilderserie aus dem rechtsmedizinischen Institut herausgebracht hat, noch wie es möglich war, dass innerhalb weniger Wochen tausende von BürgerInnen diese abgemagerten Körper mit ihren blauen Flecken sahen. Erst als wir auf diesen verbotenen Wegen davon erfahren hatten, gab es im Fernsehen eine kurze Stellungnahme über die Todesfälle.
Das letzte Beispiel der Unfähigkeit, die Information von Neugierigen fernzuhalten, war die Veröffentlichung der makrobiotischen Diät Fidel Castros. Entworfen und überwacht von einem wichtigen, auf Ernährung spezialisierten Institut, kam das ausgewählte Menü in allen Details in die Öffentlichkeit. Die Liste reicht von Algen aus Japan bis zu biodynamisch angebautem Reis. In einem Land, wo die Bewohner sich jeden Tag fragen, was sie heute essen werden, ging diese Entdeckung runter wie ein Eiswürfel. Abgesehen von den skandalösen Kosten einer so exklusiven Ernährung hat die Menschen bis weit ins Inselinnere am meisten geärgert, dass so etwas in Zeiten eines offiziellen Diskurses der Sparsamkeit und militanten Enthaltsamkeit passiert.
Auf der anderen Seite haben die Verantwortlichen für Informationssicherheit eine wahre Hexenjagd gestartet, um herauszufinden, wer die Speiseliste des Máximo Líder herausgeschmuggelt hat. Es ist wie ein Beutel voll Wasser, in den immer mehr kleine Löcher kommen, bis er leer ist. Diese Leaks können ein System zerstören, das viel zu lange auf der Geheimhaltung beruhte.
Es geht nicht darum, dass die elf Millionen KubanerInnen vorher geglaubt hätten, der Comandante en Jefe esse dasselbe wie sie, aber dieser enorme Unterschied hat sie wütend gemacht. Vielleicht schiebt sich in diesem Moment ein alter Mann mit Bart einen Löffel Vollkorn-Couscous in den Mund, dazu eine kleine Portion leckeres Sushi. Er denkt, er ist allein, aber eine gierige Menschenmenge schaut ihm zu. Man weiß von jedem Gramm, das er isst. Man wird auch unsere Geschichte erfahren, die bislang verschwiegen wurde.
■ Die Autorin lebt als unabhängige Bloggerin in Havanna Foto: dpa
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