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Die Marathonfamilie

GASTGEBER Der Tempelhofer Bäcker Horst Milde organisierte 1974 den ersten Marathon in Berlin. Inzwischen sorgt sein Sohn Mark dafür, dass der Lauf immer neue Rekorde bringt

VON JENS UTHOFF

Wenn man mit Horst Milde an einem beliebigen Ort in dieser Stadt in einem Café sitzt, so kann es vorkommen, dass man Szenen wie diese erlebt. Ein älterer, glatzköpfiger Mann in sportlichem Dress – er trägt Kapuzenpulli und Baseball-Cap – bewegt sich in Richtung des Tisches, an dem Milde sitzt. Schnurstracks geht er auf ihn zu. „Mensch, jut siehste aus! Wie alt biste jetzt? Sechzig?“, fragt er. Milde, graue Haare, davon nicht mehr ganz so viele, grinst nur in sich hinein.

In Wirklichkeit ist Milde bereits 75 Jahre alt, und er fragt den Herrn nun, woher man sich denn kenne. Der Besucher nennt seinen Namen, wichtiger aber: die Laufgruppe, mit der er einst trainierte. Und er berichtet stolz: „Immerhin, mit zweisechsunddreißig kann ich aufwarten.“ Klar, was er damit meint: Der Mann ist den Marathon mal in zwei Stunden und 36 Minuten gelaufen.

Wenn die Leute mit Horst Milde reden, dann reden sie mit ihm über den Marathon. Denn der gebürtige Tempelhofer war es, der den Laufsport in Berlin etablierte: 1964 veranstaltete er den ersten Crosslauf am Teufelsberg, am 13. Oktober 1974 dann ging der „1. Berliner Volksmarathon“ mit ganzen 286 Teilnehmern und wenigen Teilnehmerinnen über die Bühne.

Vierzig Jahre später gehört der Berliner Lauf zu den fünf größten Marathons der Welt. Im vergangenen Jahr erst erreichte man mit 36.527 Teilnehmern, die ins Ziel kamen, eine neue Bestmarke. Über 40.000 Läuferinnen und Läufer werden auch am morgigen Sonntag wieder am Start sein. Sie mussten sich für das diesjährige Rennen bewerben. Die Nachfrage nach Startplätzen übersteigt das Angebot inzwischen bei Weitem – die Teilnehmer wurden ausgelost. 98 Euro kostet der Spaß.

Inzwischen organisiert Horst Milde den Lauf nicht mehr selbst. Er hat den Staffelstab weitergegeben. Einen neuen Namen braucht man sich dennoch nicht zu merken: Seit 2004 ist sein Sohn Mark Milde Renndirektor des Marathons.

Der jüngere Milde, ein schmaler Typ mit braunen gescheitelten Haaren und schwarzer Brille, sitzt neben seinem Vater im Café am Steubenplatz in der Nähe des Olympiastadions. Zwei Wochen sind es an diesem Tag noch bis zum Marathon. Für Mark Milde beginnt nun der Endspurt: „Es macht sich positive Hektik breit, man geht durch, ob man auch wirklich an alles gedacht hat“, sagt der 41-Jährige. „Und man schaut, wie sich das Wetter entwickelt.“

Der ältere Milde nippt an seiner Apfelschorle, der Jüngere trinkt einen Cappuccino. Mit den beiden sitzt im Prinzip die Marathongeschichte Berlins an einem Tisch. Eine Familiengeschichte, einerseits. Eine Geschichte des krassen Wandels einer Laufveranstaltung, andererseits. Im Jahr 1974 sah man das versprengte Läufergrüppchen, das – damals noch im Grunewald – die Strecke von 42,195 Kilometern lief, als obskure Sekte an. Heute ist Berlin ein Mekka der Laufleidenschaft. Und immer noch werden die Pilger von Jahr zu Jahr mehr. Bestand damals der Organisationsstab aus einer Person und ein paar Helfern – selbstverständlich alle ehrenamtlich –, so ist die Firma SCC Events, die den Marathon heute ausrichtet, ein mittelständisches Unternehmen mit über 40 festangestellten Mitarbeitern und einem Jahresumsatz von etwa 10 Millionen Euro.

„Da hat sich die Zeit ein bisschen geändert“, sagt Milde junior, „am Tag des Laufs sind zwar auch heute noch 5.500 Ehrenamtliche dabei, aber die Organisation würde nebenberuflich nicht funktionieren.“ Insgesamt veranstaltet SCC Events, das als GmbH aus dem Sport Club Charlottenburg (SCC) ausgegliedert ist, heute knapp 20 Lauf- und Triathlon-Wettkämpfe pro Jahr, bei denen etwa 200.000 Teilnehmer und Teilnehmerinnen mitmischen.

Die Erfolgsstory des Marathons hat mit dickköpfigen Veranstaltern, mit gefallenen Mauern, auch mit enthusiastischem Publikum zu tun. Vater Milde, der mit leiser, krächziger Stimme berlinert und sich zwischendurch mit den Leuten am Nebentisch unterhält, erzählt vom allerersten Lauf durch den Grunewald: „Mitten auf der Waldschulallee ging es los, Zuschauer gab es keine, und die fünf Polizisten, die da waren, sagten: ,Am besten rennen Sie nur noch durch den Wald, dann brauchen wir gar nicht mehr kommen‘“. Das Medieninteresse? „Im Spandauer Volksblatt war so viel“, sagt Horst Milde und zeigt mit den Fingern eine streichholzschachtelgroße Spanne. Heute überträgt die ARD das Rennen.

Auf den Asphalt

Horst Milde, der bis 1999 eine Bäckerei in Tempelhof betrieb, hatte sich schon in den Anfängen in den Kopf gesetzt, ein großes Rennen nach Berlin zu holen. Das ging nur auf der Straße, denn Rekordzeiten wurden ausschließlich auf Asphalt anerkannt. So erfolgte die wichtigste frühe Zäsur Anfang der 80er Jahre. Im September 1981 kam der Marathon vom Rand ins Westberliner Zentrum. Start war am Reichstag, es ging über den Ku’damm zum Ziel an der Gedächtniskirche. 3.000 statt 300 Läufer rannten nun mit, vor allem waren endlich Tausende Zuschauer an der Strecke. Ein halbes Jahr zuvor hatten die Behörden Milde noch für verrückt erklärt, als er die Straßen dafür sperren lassen wollte. „Bei der Polizei und den Behörden leuchtete sowieso immer die rote Lampe, wenn ein Brief von Milde kam“, erzählt er.

Schon in den 80ern nahm die Teilnehmerzahl stetig zu, aber erst der Mauerfall ermöglichte dann den nächsten Quantensprung. Bereits am 1. Januar 1990 gab es einen Neujahrslauf durch das Brandenburger Tor. Beim ersten Marathon im selben Jahr, bei dem man das historische Bauwerk durchquerte, wollten 25.000 Leute teilnehmen – 9.000 mehr als im Jahr zuvor. Im Osten der Stadt, so Milde, sei die Veranstaltung nicht sofort ein Erfolg gewesen: „Da war nüscht los an der Strecke“, sagt er.

Bis zum ganz großen Durchbruch musste somit ein weiteres Jahrzehnt vergehen. Anfang der nuller Jahre erreichte man konstant über 25.000 Teilnehmer. Im Jahr 2003 verlegte man das Ziel ans Brandenburger Tor. Damit knackte der Marathon die 30.000er-Marke. Die Strecke konzipierte man derweil schneller und schneller, indem man den Kurs so flach, abwechslungsreich und so rekordverdächtig wie möglich gestaltete. Denn Straßenparty schön und gut – um zu den großen Marathons der Welt aufzuschließen, mussten Rekorde her. Ende der 90er Jahre war man unter den drei schnellsten Strecken der Welt, nun hat man bereits seit Jahren die schnellste Strecke (gemessen an den Durchschnittszeiten der Eliteläufer der Männer).

National steht das Rennen konkurrenzlos da. Das sieht auch Herbert Steffny so. Steffny war 1986 der letzte deutsche Marathon-Medaillengewinner bei einer Europa- oder Weltmeisterschaft (er holte Bronze) und wurde später als Trainer Joschka Fischers bekannt, den er im Jahr 2000 auf Rang 8.919 des Berlin-Marathons führte. „Berlin ist der Hauptstadtmarathon und klar die Nummer eins in Deutschland in Bezug auf Masse und Klasse. Berlin misst sich nur mit den Größten wie New York, London oder Tokio“, sagt Steffny wenige Tage vor dem Lauf.

Der Autor wichtiger Laufbücher sieht die Berliner angesichts insgesamt inzwischen stagnierender Anmeldezahlen bei City-Marathons gut aufgestellt: „Heute zählt nicht nur eine schnelle und schöne Strecke, sondern auch das kulturelle Beiprogramm. Entsprechend ist in Berlin die Ausländerquote mit 59 Prozent extrem hoch.“ In Berlin hat man mit dem Literaturmarathon, dem Erinnerungsmarathon eine Woche zuvor (auf der 1974er-Strecke) sowie dem Mini-Marathon für Kinder und dem Inlineskater-Rennen am Samstag eigentlich eine ganze Berlin-Marathon-Woche.

Steffny schätzt den Anteil der Mildes an der funktionierenden Veranstaltung als wesentlich ein: „Horst Milde ist einer der letzten klassischen Renndirektoren der alten Schule gewesen, der aus der Vereinsarbeit mit freiwilligen Helfern mit Herz und Seele den Marathon auf Weltklasseniveau gehievt hat. In Mark Milde sehe ich persönlich noch den verlängerten Arm seines Vaters.“

Den jüngeren Milde, der in Berlin zunächst eine Lehre zum Bankkaufmann absolvierte und dann Betriebswirtschaft studierte, muss man sich heute allerdings eher wie einen Sportmanager vorstellen. Er ist ständig auf der Suche nach Topathleten für das Rennen. Jahrelang hatte der Berlin-Marathon mit dem äthiopischen Weltrekordler Haile Gebrselassie eine Art Maskottchen, Zugpferd und Publikumsliebling in einer Person. In der nächsten Läufergeneration kristallisiert sich noch keiner oder keine heraus, der oder die so gut zu Berlin passt wie „Haile“.

Bisher hat Mark Milde beim Buhlen um Eliteläufer ein gutes Näschen bewiesen, denn bei den Männern fiel der Weltrekord zuletzt gleich reihenweise in Berlin (2007, 2008, 2011, 2013). „Wir haben immer weniger Geld gehabt als London oder New York, aber wir haben eben mit Zeiten geglänzt“, sagt Milde. Dabei war zumindest bei Gebrselassie auch mal von einem Antrittsgeld von 250.000 Euro die Rede. Bei doch eher geringen 40.000 Euro Preisgeld für den Sieger und die Siegerin sind in Berlin die Antrittsprämien höher. Mark Milde hofft in diesem Jahr etwa auf den Kenianer Dennis Kimetto: „Wenn das Wetter mitspielt, kann der Weltrekord fallen.“

Das Wetter, noch so ein Thema beim Berlin-Marathon: Fast immer hatte man Glück mit einem nicht zu warmen, aber sonnigen letzten Septemberwochenende – also ideales Marathonwetter.

Die schiere Größe der Veranstaltung, auch die veränderte politische Weltlage stellt heute andere Anforderungen an die Veranstalter als früher. Seit dem 11. September, spätestens aber seit dem Attentat auf den Boston-Marathon sieht man derlei Großveranstaltungen mit anderen Augen. „Das Niveau des größtmöglichen Unfalls ist in eine andere Dimension gerückt“, sagt Mark Milde. Neben den Helfern sind etwa 1.000 Polizisten im Einsatz, dazu etwa 500 Mitarbeiter einer Security-Firma. Seit dem vergangenen Jahr hat man mit dem eingezäunten Start- und Zielbereich am Tiergarten, bei dessen Betreten und Verlassen alle kontrolliert werden, die Sicherheitsvorkehrungen erhöht.

Im Hintergrund mag – und muss – das Risiko eines Attentats immer bedacht werden. Vordergründig will man der Stadt aber ein „Fest des Sports“ bieten, wie Vater Milde es nennt. „Die Stimmung ist das Wichtigste, das ist die Attraktion in Berlin“, sagt er. „Die Oma steht auf dem Balkon und macht Topfschlagen, die Leute reisen mit Kuhglocken an.“

Von Begeisterung allein läuft man dann aber doch nicht. Auch die Verpflegung für die Läuferinnen und Läufer ist wichtig. Horst Milde hat die Briefe der Teilnehmer gesammelt, die ihn nach den Marathons erreichten. Für einen dieser Läufer kamen London, Paris oder New York als Marathonorte aus einem ganz einfachen Grund nicht infrage: „Ich fahr lieber nach Berlin, da kriege ich wenigstens Orangenspalten“, habe der ihm geschrieben.

Orangenspalten und Kuhglocken. Eine Stadt auf den Beinen, neben und auf der Strecke. Und dazu ein paar Rekorde – das ist eine Mixtur, die nun schon seit Jahren wirkt.

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