: „Ich fotografiere, um sehen zu können“
DER FOTOGRAF Mit zwölf Jahren merkte Jan Bölsche, dass etwas mit seinen Augen nicht stimmte: Seine Sehkraft geht nach und nach verloren. Heute arbeitet Bölsche als professioneller Fotograf – die digitale Technik macht’s möglich
■ wird 1973 in Buchholz in der Nordheide bei Hamburg geboren. Seit 1995 lebt er in Berlin und arbeitet als Softwareentwickler und Fotograf (www.blind-photographer.com).
■ Seit er zwölf ist, sterben die Sehzellen auf seiner Netzhaut ab. An den Rändern seines Sehfeldes sieht Jan Bölsche nur unscharf, im Zentrum nichts.
■ Seine Fotos erscheinen in Medien wie der Zeit, Spiegel Online oder Harvard Business Manager. Unter anderem fotografierte er Starblogger Sascha Lobo und den verstorbenen Autor Wolfgang Herrndorf. In einer Ausstellung präsentierte er mit taz-Redakteurin Harriet Wolff Fotos aus Kreuzberg und Neukölln. Außerdem schreibt er für den Blog riesenmaschine.de.
INTERVIEW MATTHIAS BOLSINGER FOTOS LIA DARJES
taz: Herr Bölsche, obwohl Sie kaum etwas sehen, fotografieren Sie. Wo gerät Ihre Fotografie an ihre Grenzen?
Jan Bölsche: Als sehbehinderter Fotograf kann man alles tun, was sehende Fotografen tun – nur muss man andere Wege gehen.
Welche Wege denn …?
Anders als sehende Fotografen gebe ich zum Beispiel meinen Models keine Anweisungen, wenn ich Porträtfotos schieße. Denn ich erkenne deren Mimik nicht – nur, ob sie lachen oder nicht, dann sehe ich das Weiß der Zähne. Außerhalb des Studios glaube ich hin und wieder ein interessantes Motiv zu erahnen und fotografiere es.
Aber woher wissen Sie, ob Sie das Bild im Kasten haben?
Mein Fokus liegt nicht auf dem Shooting, sondern auf der Produktion danach, wenn ich mein Ergebnis auf dem Computer vergrößert sehen und die schönsten Bilder auswählen kann. Während also sehende Fotografen im richtigen Zeitpunkt wenige Male auf den Auslöser drücken, drücke ich sehr oft ab und wähle hinterher den richtigen Moment. Ich muss auf Masse gehen. In einer Session können das bis zu 500 Bilder sein.
Was leistet Ihre Fotografie im Gegensatz zu der normal sehender Fotografen?
Bei der Porträtfotografie ist es beispielsweise wichtig, dass sich die fotografierte Person wohl fühlt. Die nimmt Fotograf und die Kamera aber oft als Bedrohung wahr und ist verunsichert. Bei mir weiß die Person, dass ich sie kaum erkenne. Das macht lockerer – und das sieht man auf den Bildern. Vor allem aber glaube ich, dass sich sehbehinderte Fotografen wesentlich besser auf die Gesamtkomposition eines Bildes konzentrieren können, eben weil sie nicht alles sehen.
Wie meinen Sie das…?
Sehende Fotografen werden oft durch Details abgelenkt. Mir fällt es hingegen leichter, die Motive in der Verteilung von Licht und Schatten, Hell und Dunkel zu erkennen, wie ein Layouter, der die Augen zusammenkneift, um künstlich ein unscharfes Sehen herzustellen.
Spielt auch der Zufall bei Ihrer Fotografie eine Rolle?
Auf jeden Fall. Oft entdecke ich auf den Fotos im Nachhinein überraschende Dinge, die ich beim Shooting nicht gesehen habe.
Sie bezeichnen sich selbst als blinden Fotografen. Vollständig blind sind Sie jedoch nicht. Sie leiden an der Krankheit Morbus Stargardt …
Nur wenige blinde Menschen haben tatsächlich überhaupt kein visuelles Wahrnehmungsvermögen, gelten aber als blind, weil sie einen gewissen Schwellenwert unterbieten. Ich war seit 25 Jahren nicht mehr beim Augenarzt. Mir hat es damals gereicht zu wissen, dass mein Krankheit nicht therapierbar ist. Die Sinneszellen auf meiner Netzhaut sterben nach und nach ab, von innen nach außen. Das ging damals sehr schnell, mit zunehmendem Alter hat sich der Prozess verlangsamt – vollkommen blind werde ich nicht werden. Nur am Rand meines Sehfeldes kann ich Dinge unscharf erkennen, in der Mitte sehe ich nichts mehr. Außerdem sehe ich manche Farbtöne nicht mehr, zum Beispiel das Rot auf vielen Anzeigetafeln.
Wann haben Sie gemerkt, dass etwas mit Ihren Augen nicht stimmt?
Als ich zwölf Jahre war, konnte ich in der Schule das Tafelbild nicht mehr erkennen. Ich habe mich immer weiter nach vorne gesetzt. Irgendwann konnte ich selbst aus der ersten Reihe nicht mehr lesen, was der Lehrer aufgeschrieben hatte. Nach der Diagnose saß ich mit einem Monokular, einer Art Fernrohr, im Unterricht.
Das hat sich sicher komisch angefühlt …
Als Teenager das schleichende Voranschreiten einer Behinderung zu erleben, ist nicht leicht. Und so sehr mir mein Monokular anfangs geholfen hat, so stellte es doch auch ein nach außen sichtbares Symbol meiner Behinderung dar. Meine Mitschüler sind ganz gut damit umgegangen. Die Zeit zwischen sechster und zehnter Klasse war dennoch die schlimmste Zeit meines Lebens.
Gab es nichts, was Sie aus diesem Tief rausholen konnte?
In dieser Zeit begann ich mich fürs Programmieren zu interessieren. Hier konnte ich alles so vergrößern, wie ich es brauchte. Außerdem begeisterte ich mich für das Zeichnen. Aber das konnte ich in der Schule nicht wirklich ausleben. Im Kunstunterricht mussten wir Dinge abzeichnen, die ich gar nicht mehr erkennen konnte. Aber schon damals ist mir etwas aufgefallen: Meine Mitschüler hatten zwar kein Sehproblem, haben aber überhaupt nicht darauf geachtet, was sie sehen.
Was meinen Sie damit?
Wenn sie einen Apfel zeichnen sollten, zeichneten die meisten einen Kreis mit einer Art Stiel und einem Blatt. Den Kreis malten sie rot aus. Aber der Apfel war nicht einfach rot: Er glänzte und warf Schatten. Das nahmen meine Mitschüler aber nicht wahr. Dabei war es genau das, was mich fasziniert hat: Licht und Schatten. Diese Leidenschaft habe ich aber zunächst nicht weiter verfolgt und bin Softwareentwickler geworden. Da spielte meine Sehbehinderung keine Rolle. Auch heute noch bestreite ich mit dem Programmieren mein Einkommen. Von der Fotografie leben kann ich nicht.
Und was hat dann Ihre Lust am Fotografieren geweckt?
Ein großer Zufall: Ein guter Freund hatte seiner Freundin eine kleine, kompakte Digitalkamera geschenkt und meinte zu mir: „Das wäre doch etwas für dich!“ Tatsächlich konnte man diese Kamera ganz nah an Objekte halten und erhielt trotzdem noch scharfe Bilder. Von dem Moment an war die Kamera mein ständiger Begleiter. Ich fotografierte, um sehen zu können: Auf einmal konnte ich wieder Zeitung lesen, indem ich die Seiten fotografiert und extrem vergrößert habe. Ich konnte mich wieder in der Stadt orientieren, konnte Straßennamen und Hausnummern erkennen. Außerdem wurde ich in der Öffentlichkeit mit dem Apparat nicht sofort als Sehbehinderter erkannt. So ein Gerät war eben nicht so uncool wie das, was einem die Krankenkasse bezahlt.
Heute ist Ihre Kamera für Sie mehr als ein Hilfsmittel. Neben Porträtbildern fotografieren Sie auch künstlerische Motive. Wie kam es dazu?
Das vielleicht erste künstlerische Foto entstand während der Fußball-WM 2006. Ein Fan der kroatischen Nationalmannschaft lief vor zwei BSR-Containern. Das rot-weiße Schachbrettmuster der Nationalflagge auf seinem Trikot verschmolz mit dem Orange der Container. Ich passte den richtigen Moment ab und drückte auf den Auslöser. Gleichzeitig entstand so das prägende Motiv für meine fotografische Arbeit: Ich möchte einen Dialog zwischen der Person und ihrem Hintergrund herstellen, ohne dass mein Protagonist davon weiß.
Dabei ist Ihre sinnliche Wahrnehmung immer eine andere als die normal sehender Fotografen. Welchen Einfluss hat das auf Ihre Bilder?
Zum einen ist der Einfluss relativ banal: Rote Objekte vor schwarzem Hintergrund würde ich nicht fotografieren – die kann ich nämlich nicht sehen, genauso wie Dinge, die weit entfernt sind. Zum anderen: Ich entferne mich vom Realismus, der Dinge abbilden will, wie sie sind. In Polen habe ich eine Frau vor einem tristen Supermarktschaufenster fotografiert. Das einzige Highlight, die blaue Farbe einer „24h“-Leuchtschrift, habe ich am Computer noch kräftiger gemacht. Ich verstärke Farben oder mildere sie ab, um die Geschichte zu erzählen, die ich erzählen will.
Fällt es Ihnen eigentlich leichter, sich von der realistischen Fotografie zu lösen, weil Sie jeden Tag erleben, dass auch das Auge nur ein zufälliger Filter der Realität ist?
Absolut! Mir ist bewusster als anderen, dass die Menschen die Welt unterschiedlich wahrnehmen. Dass die Technik die Welt anders abbildet, dass es in der Fotografie keine Authentizität gibt.
Wissen Ihre Kunden eigentlich von Ihrer Sehbehinderung?
Wenn es sich um Autorenfotos etwa für Bücher handelt, dann schon – mit der Journalistin Kathrin Passig bin ich beispielsweise befreundet. Die Zeitungsredaktionen wissen es nicht. Denen geht es ums Ergebnis. Es ist egal, wie das zustande kommt.
Immer wieder bieten Sie im Rahmen von Fotografie-Festivals Workshops an. Um was geht es dabei?
In Berlin haben beispielsweise sehende Menschen einer blinden Malerin Fotomotive beschrieben, die die Malerin anhand der Beschreibung nachzeichnen musste. Wir haben gemerkt, dass Sehende die Fotos oft schlecht beschreiben. Entweder sie verlieren sich in oberflächlichen Kleinigkeiten und geben keinen Gesamteindruck wieder oder sie nehmen wichtige Details nicht wahr. Ich glaube, dass sehende Menschen durch solche Übungen nicht nur blinden Menschen besser im Alltag assistieren können, sondern auch aufmerksamer durchs Leben gehen.
Berlin ist eines Ihrer häufigsten Fotomotive. Allein Kreuzberg haben Sie eine ganze Bilderserie gewidmet. Wie hat sich die Stadt für Sie als Fotografen verändert?
Die „verwunschen Orte“ gehen verloren. Optisch interessante Orte wie die Cuvrybrache, die Berlin einzigartig machen, verschwinden. Eine wichtige Veränderung hat aber gar nichts mit dem Stadtbild zu tun: Immer mehr Menschen laufen durch Berlin und machen Fotos mit ihren Smartphones oder Spiegelreflexkameras. Als Fotograf unterscheidet man sich optisch nicht von den Touristen. Die Omnipräsenz von Fotoapparaten wirkt etwas ermüdend, sowohl auf die Einwohner wie auch auf mich. Aber natürlich bin auch ich Teil des Problems.
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