LEBEN MIT DER SANKTIONSSPIRALE: Wenn Verzicht zur Bürgerpflicht wird
KLAUS-HELGE DONATH
Richtig Lust zum Reden haben die Moskauer zurzeit nicht. Viele verteidigen noch das Vaterland an der ukrainischen Westfront und nehmen die Realität nicht mehr in allen Schattierungen wahr. Die anderen, die im Hinterland für den Nachschub zuständig sind, ahnen schon etwas von der ungeschminkten Wirklichkeit. Sie behalten es jedoch für sich, weil sie den Vorwurf fürchten müssen, mit der Realität den Helden in den Rücken zu fallen. Russlands Dolchstoßlegende.
Daher gibt es nur ein Thema, das die Menschen bewegt. Es ist das Geld, mit dem sich immer weniger kaufen lässt. Durch Preissteigerung und Inflation ist die Kaufkraft gesunken. Dass das mit dem Ukrainekrieg zu tun haben könnte, lässt sich erahnen, einen Zusammenhang herzustellen, wird jedoch vom Staat vermieden. Wer denkt, macht sich verdächtig. Dabei hatte alles so gut angefangen: erst die Krim, dann der Osten und schließlich die Sanktionen, die der zögerliche Westen höchst unwillig verhängte. Trotzig hielt man ihm entgegen, wir brauchen euch nicht, die Welt hat noch andere Ecken. Mit der richtigen Sanktionskeule wartete indes erst Moskau auf, indem es sich selbst bestrafte und den Import von Lebensmitteln aus der EU im Gegenzug unterband. Das Land glühte vor Begeisterung: Jetzt böte sich endlich die Chance, autark zu werden und an die Aufbauleistungen der sozialistischen Wirtschaft anzuknüpfen. Je patriotischer die Person, desto diätbereiter schien sie, je unerreichbarer ihr Status im Staatsdienst, desto inniger die Vorfreude auf den Verzicht. Aufgeschobene Begierde ist nach Hegel das Entwicklungsprinzip der bürgerlichen Gesellschaft, das Russland bislang hochnäsig missachtete.
Die Sanktionen weckten bei den Älteren Erinnerungen an die Jugend, die im Rückblick immer makellos erscheint. Dass das Klopapier, wenn es das denn mal gab, sich nur an der Perforation als reißfest erwies, wird im Nachhinein zu einer krachenden Anekdote – nicht zu einem systemischen Defekt einer autarken Produktion. Davon wissen die Jüngeren nichts, die dank des Geschichtsunterrichts glauben, die UdSSR hätte alles produzieren können und würde heute nur aus Konkurrenzgründen vom Westen daran gehindert.
Laut einer Umfrage des Lewada-Meinungsforschungsinstituts verlangt eine Mehrheit der Befragten vom Staat, vor dem Druck von außen auf keinen Fall einzuknicken. Der Stolz des Großrussen geböte es. Es gibt aber Dinge, auf die mehr als die Hälfte der Bürger nicht verzichten möchten: Arzneimittel und Medizintechnik sind es bei den Älteren, bei den Jüngeren elektronische Geräte und Computer. Wer nichts zum Spielen hat, könnte auf dumme Gedanken kommen. Die Einheit der Kriegsbefürworter zerfällt an der Verbraucherfront in eine atomisierte Masse.
Unterdessen veranlassten die Sanktionen des Finanzsektors den Kreml, über die Einstellung des Mutterschaftskapitals, eine Einmalzahlung von umgerechnet 10.000 Euro für jedes Kind nachzudenken. Darüber würden sich die Moskauer dann wohl richtig aufregen.
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