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BRÜSSEL WIRKT KLÄGLICH IM STREIT ZWISCHEN MOSKAU UND TALLINNEstnische Realitäten

Der deutsche Wirtschaftsminister Michael Glos bringt das Dilemma hübsch auf den Punkt: Auf einem Empfang in Tallinn sagte er, „Deutschland strebe zum einen gute politische Beziehungen zu Russland an, fühle sich aber auch besonders dem EU-Mitglied Estland verbunden“. Das gilt auch stellvertretend für die EU: Brüssel hängt zwischen seinem kleinen Mitgliedstaat und Moskau.

Deren Streit um ein sowjetisches Kriegsdenkmal hat sich mittlerweile zu einer handfesten Krise ausgewachsen, deren Ende nicht absehbar ist. Wieder einmal wird deutlich, welch schwieriges Erbe Estland, aber auch der Nachbar Lettland angetreten haben. In beiden Ländern stellen die Russen ein Drittel der Bevölkerung. Die Angehörigen der einstigen „Besatzer“, wie das viele Balten sehen, haben sich bis heute mit ihrem unklaren Status als Minderheit nicht abgefunden. Stattdessen gerieren sie sich – bestärkt von Moskau – fortwährend als Opfer der tyrannischen Mehrheitsgesellschaft. Und tatsächlich: Obwohl Gesetze – nicht zuletzt auf Druck der EU – mehrfach nachgebessert wurden, kann von einer Integration der russischen Minderheiten keine Rede sein. Vielmehr existieren Parallelgesellschaften, die neben-, aber nicht miteinander leben.

Doch die Schuld daran tragen nicht allein Esten und Letten. Viele Russen, auch der jüngeren Generation, haben kein Interesse daran, sich auf die neuen Gegebenheiten einzulassen. So ist es kein Zufall, dass viele von ihnen keine estnischen oder lettischen Staatsbürger sind, weil sie den Erwerb der jeweiligen Landessprache schon als unzumutbar empfinden. Dass die Esten jetzt Europa um Hilfe bitten, ist verständlich und richtig. In der Vergangenheit diktierte die Annäherung an Moskau nur allzu oft den außenpolitischen Kurs der EU in Osteuropa. Das mussten etwa die Ukrainer nach der orangenen Revolution 2004 erfahren. Sie wurden mit ein paar Absichtserklärungen abgespeist. Ein solches Verhalten kann sich Brüssel gegenüber einem Mitgliedstaat nicht leisten. Sonst braucht es eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik nicht mal mehr zu diskutieren. BARBARA OERTEL

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