: Nachbarsjungen
WECHSEL Der Autor Jochen Schmidt wuchs in Ostberlin auf und wusste alles über den Westen. Sein Kollege David Wagner wuchs bei Bonn auf und wusste fast nichts von der DDR. Zwei Blicke auf die andere Seite
VON JOCHEN SCHMIDT
Wie mein Leben drüben aussehen würde, dieser Frage habe ich als Kind lange Tagträume gewidmet. Ich sah mich in einem eigenen Kinderzimmer mit Tennisschläger, Heimcomputer und einem Spielzeug-Walkie-Talkie, das immerhin ausreichte, um mit all meinen Freunden zu sprechen, die ähnliche Zimmer in den Einfamilienhäusern ihrer Eltern bewohnten. Wir besuchen uns selten, weil ja jeder seinen eigenen Fernseher hat, sogar Kabelfernsehen (was auch immer das sein soll).
Im Winter gucke ich immer die Ski-Gymnastik, um besser zu wedeln, wenn wir im Urlaub nach Schladming oder Crans-Montana fahren. Wenn ich Hunger habe, gehe ich zu den Kühlschrankkombinationen in der Küche und mache mir in der Mikrowelle eine Minipizza mit Käse im Rand warm, die ich vorher mit Scheibletten belege. (Schafft den wirklich eine Frau auf dem Fahrrad aus Holland heran?) Eine Schüssel Paradiescreme steht auch immer bereit. Allerdings darf mich da meine Mutter nicht erwischen, die tagsüber zu Hause ist.
Sie verbringt ihre Tage mit Bibelkreis, Flötengruppe, Gartenarbeit und Wassergymnastik. Dazwischen sitzt sie in der Couchgarnitur und blättert im Otto-Katalog, um ab und zu telefonisch etwas zu bestellen. Ihr Auto benutzt sie eigentlich nur, um frisches Marzipan von der Konditorei zu holen.
Mein Vater hat sich gerade wieder ein neues Auto gekauft, weil er der Meinung ist, dass man „seinen Wagen“ alle vier Jahre abstoßen muss, um Kosten zu sparen. Er arbeitet bei einer Behörde, die die Landschaft erkundet, um die besten Strecken für neue Autobahnen zu finden. Viele Männer tun nur so, als würden sie morgens mit Aktentasche zur Arbeit gehen, in Wirklichkeit sind sie arbeitslos und schämen sich vor ihren Nachbarn.
Ich fahre heute nicht mit dem Skateboard, sondern mit meinem 21-Gang-BMX-Rad zur Schule, allerdings den Umweg am Atomkraftwerk vorbei, weil die IG Metall wieder einen Warnstreik macht und die Straße sperrt. Vor der Schule stehen Drogendealer, aber mir reichen meine Pattex-Tuben im Bastelkeller. Meine Mitschüler und ich machen Polaroid-Fotos voneinander und wir setzen uns gegenseitig die Kopfhörer unserer Walkmen auf.
Wenn es geklingelt hat, gehen wir langsam rein, es fängt sowieso nie pünktlich an. Die bunten Schulbücher lassen sich kaum von Kinderbüchern unterscheiden, das meiste wird in Form von Comics behandelt. Man sitzt an Tischen über den Raum verstreut, jeder, wo er Lust hat. Die Lehrerin ist bei den Grünen und hat weniger Geld als ich. Wenn man will, kann man einfach gehen, die Lehrer dürfen dann nichts sagen, weil wir ja nicht im Osten sind und sie sonst Ärger mit den Eltern bekommen würden. Außerdem habe ich ja 13 Schuljahre und kann vor dem Abitur noch schnell alles lernen. Mit meinem Durchschnitt von 3,0 bin ich immer noch einer der Besten, und wenn mir ein Fach nicht gefällt, wähle ich es ab.
In der Pause kaufe ich mir am Automaten Caprisonne und Milchschnitten. Danach putze ich meine Zähne mit Perlweiß. Im Sportunterricht wird die ganze Zeit Basketball gespielt, Zensuren gibt es nicht. Die Mädchen sind alle so schön braun vom Solarium. Sonnabends ist schulfrei. An den Nachmittagen habe ich Tenniskurs, ich trainiere auf der Go-Kart-Bahn, oder ich treffe mich mit meiner Polit-AG, weil wir die Nazivergangenheit unseres Ortes erforschen. Da mache ich aber nur mit, weil ich in die Mädchen verliebt bin. Es gibt im übrigen auch eine Neonazi-Rocker-Motorradgang im Ort, die sitzen immer an der Bushaltestelle und trinken Berentzen Appel, aber da ihre Väter meinen vom Schützenverein kennen, habe ich von denen nichts zu fürchten.
Zum Glück muss ich mir keine Sorgen über meine Zukunft machen, da meine Eltern mir, bis ich 27 bin, 800 Mark im Monat zahlen werden, damit ich Zeit habe, mich zu finden. Bis dahin wird sich schon herausstellen, was ich werden will. Ich könnte mir vorstellen, ins Rateteam vom „Heiteren Beruferaten“ einzusteigen. Oder ich bewerbe mich bei „1, 2 oder 3“ als Kamerakind, und wenn ich meine Arbeit gut mache, kann ich vielleicht Filmregisseur werden und nach Hollywood gehen.
Meine Mutter will, dass ich Zahnarzt werde. Nachrichtensprecher wäre gut, die müssen nur eine Viertelstunde am Tag arbeiten. Ich kann natürlich auch bei Jacques Cousteau auf der „Calypso“ mitfahren, dafür übe ich manchmal Luftanhalten. Zur Armee muss ich ja nicht, weil ich auf dem linken Auge 0,5 Dioptrien habe. Ich muss eigentlich gar nicht arbeiten gehen, weil ich später auch von den Zinsen meines Knax-Kontos leben kann.
Bis jetzt habe ich noch nie im Leben geweint. Ich habe nur Angst vor Aids, dem Ozonloch, dem sauren Regen und den RAF-Terroristen, die man auf den Postern in der Sparkasse sieht.
Prozent der Westdeutschen waren noch nie im Osten. Ein Prozent der Ostdeutschen war noch nie im Westen Quelle: Umfrageinstitut Info GmbH
29
Prozent der Ostdeutschen, die im vergangenen Jahr verreist sind, waren an der Ostsee. Westdeutsche fahren am liebsten nach Spanien Quelle: Allensbach-Institut
8
Millimeter beträgt der Abstand der Noppen des DDR-Bausteins Pebe – wie bei Lego. In den Achtzigern machte Pebe die Klötze wegen einer Lego-Klage inkompatibel Quelle: pebe-Archiv
9
Tage vor dem Start des West-Sandmännchens geht das Ost-Sandmännchen am 22. November 1959 erstmals auf Sendung Quelle: rbb
40
Prozent der Ostdeutschen finden, Nationalfeiertage sind eine gute Gelegenheit, stolz auf sein Land zu seien. Im Westen sind es genauso viele Quelle: Allensbach-Institut
52
Prozent der 16- bis 29-Jährigen finden, dass der Unterschied zwischen Nord- und Süddeutschen größer ist als der zwischen Ost- und Westdeutschen Quelle: Forsa-Institut
Es klingelt, die Putzfrau kommt und unterhält sich mit dem Kindermädchen. Ich könnte ein bisschen auf unserem Golfplatz im Garten mit meiner Dampflokomotive fahren. Oder ich gucke mir auf dem Videorekorder wieder mal Rambo I–IV an, wenn die Russen kommen, muss ich wissen, wie man sich verteidigt.
So habe ich es mir vorgestellt im Westen, wo schon die Bifi-Verpackungen so betörend dufteten, dass wir sie tagelang aufhoben, um daran zu riechen. Am meisten interessierte mich immer das Materielle. Manchmal waren wir besser über neue Produkte, Comics oder Spielzeuge informiert als unsere Westcousinen, wenn sie auf Besuch kamen, sie durften ja nicht so viel Werbefernsehen gucken wie wir.
Dass es umgekehrt nicht so war, dass man drüben über uns kaum etwas wusste (und auch heute wenig wissen will), habe ich früh staunend zur Kenntnis genommen. Wirklich warm werde ich mit Westdeutschen meiner Generation deshalb selten, mit dem Fall der Mauer war unserer Beziehung die Grundlage genommen.
Die Bonner Kindheit, die David Wagner in unserem gemeinsamen Buch „Drüben und drüben“ beschreibt, strahlt für mich eine seltsame Tristesse aus, schwer zu sagen, ob er wunschlos glücklich war oder schrecklich einsam.
Oberflächlich betrachtet habe ich nicht so anders gelebt als er, endlose Nachmittage mit Langeweile (das Fernsehen hatte ja noch lange Sendepausen, wovon zumindest David der Videorekorder erlöste), pathologische Gier auf Süßigkeiten, die vielen gleichzeitigen Verliebtheiten, das Destruktive, dauernd machte man ohne Grund Sachen kaputt, die Bedeutung des Autos, nirgends war man so sehr Familie wie in diesem engen Raum. Wenige, aber nicht weniger lästige Pflichten (Müll runterbringen). Die sparsame große Schwester, der man Süßigkeiten klaute. (David bastelte sogar aus Holz Kinderschokolade-Attrappen, um den Raub zu tarnen.) Das seltsam altmodisch-fremde von Wörtern wie „Deutschland“, die in irgendwelchen Nischen noch überlebt hatten (bei uns z. B. der Begriff „Deutsche Reichsbahn“). Die Angst vor dem Atomkrieg. Die Ermahnungen zur Sparsamkeit („Teil dir das gut ein!“). Die erlösende Wirkung von Bier.
Hatten wir deshalb eine überraschend ähnliche Kindheit? Ja, denn man konnte als Kind in beiden Ländern glücklich sein. Aber auch nein, denn ich habe damals Erfahrungen gemacht, die ich in der BRD nicht gemacht hätte. Wo kann man heute schon noch in einem anderen Gesellschaftssystem aufwachsen? In dem Geld kaum eine Rolle spielt?
Meine Herkunft wird mich immer prägen. Und unsere Schutzmacht, das klingt für mich immer unbegreiflicher, war die Sowjetunion. Ihre Kulturangebote und Sprache hat man damals als lästig empfunden, während ich die Berührung damit heute als Horizonterweiterung schätze, schon weil ich mich dadurch in Osteuropa überall zu Hause fühle, wo die Menschen oft mehr Vertrauen haben, sobald geklärt ist, aus welchem Deutschland man stammt. Damals fanden wir uns natürlich nicht interessant.
Als Cousinen aus Hamburg in den achtziger Jahren ganz scharf auf unsere Pionierabzeichen und die Abzeichen mit Lenin von meinem russischen Brieffreund waren, staunten wir, die steckten sich das freiwillig an? Endlich konnten wir ihnen mal etwas bieten.
Ich lese Davids Beschreibungen seiner Kindheit auch, um mir den kollektiven Fluchtreflex zu erklären, der nach der Wende so viele junge Westdeutsche in die Innenstadt Ostberlins geführt hat.
In der BRD drohte offenbar Erstickungsgefahr. Mit seinem Versprechen auf Drogen, Punk und Revolution war Berlin schon lange ein Magnet gewesen, und Ostberlin empfanden die Westler bei ihrer Besiedlung ja als „leer“, als hätte damals dort niemand gelebt. Was wäre passiert, wenn sich dieses Ventil für sie nicht geöffnet hätte?
Ich wollte nach der Wende meine Heimat nicht mehr verlassen. Die ersten Reisen in den Westen hatten ja gezeigt, dass es dort überall wie in alten Derrick-Folgen aussah. Berlin war mein Zuhause, in meiner Hinterhofwohnung lebte ich wie in einer Berghütte, mit Blick auf eine malerische Schlucht und mit einem Kohlefeuer, das mich im Winter wärmte. Die Miete machte mir keine Kopfschmerzen. So hätte es, von mir aus, für immer bleiben können.
Dass David nichts über die DDR wusste, nehme ich ihm nicht übel, bei mir weckt Westdeutschland ja auch keine Abenteuerlust, da kann man doch höchstens kuren. Ein Land, dessen emblematisches Bauwerk die Tiefgarage ist? (Erbe des Luftschutzbunkers?) Im Osten kann ich es aber auch nur noch aushalten, weil ich die Stadt im Kopf ständig repariere und Buntifizierungen und Nachwende-Investorenschrott mühsam aus meinem Bewusstsein ausblende. Gott sei Dank bin ich in Deutschland nur Migrant.
VON DAVID WAGNER
Wie war die Kindheit des anderen? Wie sah eine Kindheit in der DDR aus? Ich wusste es nicht, ich hatte keine Ahnung. Bis ich Jochens Hälfte unseres gemeinsamen Buches „Drüben und drüben“ las.
Jochen ist ein Erinnerungskünstler. Er hat zum Glück fast alles behalten. Er weiß noch von dem orangefarbenen Spielzeugtelefon, dessen Leitung durchs Fenster in ein anderes Stockwerk verlegt werden konnte. Mir fallen dazu selbst gebastelte Dosentelefone und unser Haustelefon ein. Er weiß noch, dass die „Gruselspinne mit Anstecknadel“ für siebzig Pfennige zu haben war. Einmal soll das Kind, von dem er erzählt, im Garten ein Loch graben, um Kröten zu fangen, die auf dem Weg zum Teich des Nachbars sind. Mir fällt dazu ein, wie gerne ich in unserem Garten Löcher buddelte, immer wieder: um Schätze zu finden, die dort vielleicht jemand, lange vor mir, versteckt haben könnte. Ich grub nach Dinosaurierknochen und den Bombentrümmern, die es unter unserem Rasen tatsächlich gab, später auch um Biotope anzulegen. Die Vögel, dachte ich, brauchen doch Nahrung. Und Frösche einen Lebensraum.
Von Jochen erfahre ich, dass es jenseits der Zonengrenze sogar Digitaluhren gab. Einer in der Klasse seines jugendlichen Protagonisten besitzt eine, er ist der Star, immer wollen die Mädchen von ihm wissen, wie spät es ist. Digitaluhren, kleine Statussymbole von Seiko, Casio oder Citizen gab es bei uns im Westen auch, selbstverständlich, irgendwann in der Mittelstufe hatte fast jeder in der Klasse eine. Beliebt waren die Stoppuhrspiele: Wer schafft die kürzeste Zeit? Zur vollen Stunde piepsten sie ihr Signal. Sie piepsten, bis die Digitaluhrmode von den Swatch-Uhren abgelöst wurde.
Vielleicht, die Idee habe ich von Jochen, war der Osten materialistischer in dem Sinne, dass die Dinge, westliche Dinge zu mal, dort viel begehrter und wertvoller und damit symbolisch aufgeladen waren.
Eben weil sie immer auch eine politische Botschaft transportierten: Sieh, ich besitze etwas von drüben! – und wenn es sich bloß um eine leere Coca-Cola-Dose handelte. Bei uns waren die Dinge bloß Dinge, die von Zeit zu Zeit ausgetauscht wurden. Von meiner Digitaluhr weiß ich nichts mehr – erinnere mich aber an meine erste Swatch von 1984. Heute wäre sie wahrscheinlich ein wertvolles Sammlerstück.
■ Im Osten: Jochen Schmidt wurde 1970 in Ostberlin geboren. Er gründete die Berliner Lesebühne „Chaussee der Enthusiasten“ mit und schrieb unter anderem den Roman „Schneckenmühle“.
■ Im Westen: David Wagner wurde 1971 in Andernach am Rhein geboren. Für seinen Roman „Leben“ erhielt er 2013 den Preis der Leipziger Buchmesse. Er lebt heute in Berlin.
■ Im Buch: „Drüben und drüben. Zwei deutsche Kindheiten“ von David Wagner und Jochen Schmidt ist gerade im Rowohlt Verlag erschienen.
Die Kindheit des anderen in der DDR: sie war vielleicht gar nicht so schlimm. Nicht so schlimm jedenfalls, wie es der Politik- und Sozialkunde-Unterricht uns im Westen damals ausmalte. Immer wieder mussten wir die Hefte der Bundeszentrale für Politische Bildung lesen, in denen geschrieben stand, wie gut es uns und wie schlecht es den Bewohnern der Länder des Warschauer Paktes ging.
Das Kind, von dem Jochen in „Drüben und drüben“ erzählt, hatte Glück: die Eltern, die Familie und die Kirche (es muss ja jede Woche „zu seinem Gott“, wie ein Spielkamerad es im Buch so schön ausdrückt) bieten ihm eine andere Identifikation, als der Staat sie eigentlich erzwingt. Und, wie es scheint, kommt das Kind mit dem Jonglieren zwischen den verschiedenen Wahrheiten einigermaßen zurecht.
Damals, als ich Kind war, verschwendete ich keine Gedanken an den Osten. Wir wussten fast nichts von der DDR. Wir wussten, dass es sie gab, ja, sie kam hin und wieder in den Nachrichten vor – wieder Schüsse an der innerdeutschen Grenze, neue Selbstschussanlagen installiert, politische Gefangene freigekauft –, ansonsten aber existierte sie eher nicht. Filme und Serien spielten in Amerika, in Frankreich, Italien oder England, einige auch in einem Land, das Tschechoslowakei oder ČSSR hieß. Nie jedoch in der DDR. Halt, eine Ausnahme: Präsent war die DDR bei Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften, die nichts mit Fußball zu tun hatten. Die Sportler der DDR in ihren hellblauen Trikots gewannen fast immer. Es war unheimlich. Freuen konnte ich mich darüber nicht, es schien doch nicht mit rechten Dingen zuzugehen.
Außerdem, sahen sie nicht immer ein wenig traurig aus, diese Supersportler, die vielleicht sogar Sportroboter waren? Konnte die DDR künstliche Menschen bauen? War Katarina Witt ein Lächel-Cyborg? Eine Blade-Runnerin?
Bei den einzigen Weltmeisterschaften, die wirklich zählten, den Fußballweltmeisterschaften, war die DDR nicht dabei – also gab es sie wahrscheinlich doch nicht. Von der Vorrundenniederlage der Nationalmannschaft bei der WM 74 in Hamburg und dem damaligen Gegner wusste ich nichts. Das lag hinter meinem Erinnerungshorizont.
Umgekehrt, und das weiß ich, seit Jochen es aufgeschrieben hat, spielte der Westen für ein Kind, das in der DDR aufwächst, eine große Rolle. Der Westen kam im Fernsehen, der Westen war die große Sehnsuchtsmaschine auf der anderen Seite der Mauer. Von dort wurde gesendet, von dort kamen die Programme, fast die gleichen, die ich nachmittags und abends sah. Das Kind in Ostberlin kannte sich also aus im Fernsehwesten, wusste viel mehr von uns als ich von ihm.
Dachte ich doch mal an die DDR, dann taten mir die Menschen dort leid. Mir tat leid, dass sie dort nicht offen ihre Meinung sagen und frei wählen durften. Ich fand es ungerecht, dass nicht jeder Abitur machen und studieren durfte, dass es politische Gefangene und Überwachung durch die Staatssicherheit gab. Am meisten aber tat mir leid, dass sie eingesperrt waren in ihrem Arbeiter-und-Bauern-Staat. Wie schrecklich war das denn? Nie nach Österreich, nie zum Skifahren in die Schweiz? Im Sommer nie nach Italien, nicht mit dem Schulaustausch nach Frankreich, nie nach England?
Worüber ich dann doch staune: Der Jugendliche, von dem Jochen erzählt, besitzt einen C64. Es gab also doch Computer in der DDR, damals schon? Und manchmal gab es sogar Süßigkeiten aus dem Westen, knapp zugeteilt – und nein, wir bekamen von denen nicht jeden Tag, so viel wir wollten, wir lebten leider nicht im Schlaraffenland, unsere Mütter waren selten wie die Fernsehwerbungsmütter, die freigebig Milky Ways verteilten, weil die ja so leicht waren und, wie behauptet wurde, in Milch schwammen.
Selbst in der DDR lebte man nicht auf dem Mond, nicht unbedingt, auch in der DDR wurden The Smiths gehört, lange vor 1989, wie ich von André Kubiczek weiß. Die Beschaffung guter Musik unterschied sich gar nicht so sehr von der bei uns: aus dem Radio mitschneiden, überspielen, von Kassette auf Kassette überspielen, tauschen. Auch im Westen, in der Provinz (und provinziell war die Bundesrepublik ja überall, Westdeutschland hatte keine echte Hauptstadt), war es gar nicht so leicht, die richtigen Platten, die richtigen Klamotten und die richtigen Schuhe aufzutreiben. Es gab ja noch kein Internet, das alles wusste. Aus der Not heraus fingen wir an, uns selber Band-T-Shirts zu malen. Wie stolz war ich dann 1987 (acht Jahre nach Erscheinen des Albums) auf mein Joy-Division-T-Shirt mit der Abbildung des „Unknown Pleasures“-Covers, aus London mitgebracht. Und der jugendliche Tramper, von dem Jochen in seinem Teil von „Drüben und drüben“ erzählt, er kauft seine erste Joy-Division-Platte wo? In der Volksrepublik Polen!
Die Kindheit des anderen stellt eine große Frage: Wie hätte das eigene, wie hätte mein Leben drüben, auf der anderen Seite ausgesehen? Wäre ich ein begeisterter Jungpionier geworden? An was hätte meine Mutter geglaubt? Und mein Vater? Im Westen war er Teil des Systems im Dunstkreis des Bonner Regierungsapparats, gleichzeitig pflegte er linken Widerspruchsgeist. Er glaubte nicht alles, was in der Zeitung stand, hatte Ideen, stellte infrage und machte sich über das deutsche Obrigkeitsdenken lustig. Was wäre in der DDR aus ihm geworden, was hätte die DDR aus ihm gemacht? Im Westen hatte er erfolgreich gegen die Welt seiner Eltern und seinen eigenen Vater, den großen Nazi, revoltieren können. Parteisekretär wäre er wohl nicht geworden.
In der DDR hatte es kein 1968 gegeben, dementsprechend gab es keine Achtundsechziger, die mein Aufwachsen und meine Erziehung in der späten Bundesrepublik nicht unwesentlich geprägt haben. Ich glaube, sie hätten mir gefehlt in der DDR. Zwar war es nicht so, dass ich nur von studentenbewegten Pseudo-Revolutionären umgeben gewesen wäre, aber schon als Kind gab es ein Empfinden für die zwei Kulturen der Bundesrepublik: Es gab ja auch das konservative, weltkriegs- und adenauergeprägte Milieu meiner älteren Tanten und älterer Lehrer, das sich von dem meiner Eltern und dem der jüngeren, engagierten, der Protestkultur zugeneigten Umgebung doch sehr unterschied.
Stelle ich mir vor, ich hätte in einem allein von den Ideologien der Großelterngeneration bestimmten Land aufwachsen müssen, selbst wenn einige dieser Opis einmal verdiente Antifaschisten gewesen waren – ach nein, lieber nicht. In der DDR wäre noch viel mehr Anpassertum nötig gewesen, jeden Tag, als bei uns schon gefragt war, für einige Lebensläufe zumindest. In der DDR hätte ich den Kriegsdienst kaum verweigern können, ich hätte zur Armee gemusst. Den Achtzehnjährigen, von dem Jochen erzählt, erwischt es wie alle anderen, er muss zur NVA. An seinem neunzehnten, in der Kaserne verbrachten Geburtstag, weckt ihn ein Vorgesetzter mit der Neuigkeit, die Mauer sei auf. Dass es die beiden Deutschlands, in denen wir bis dahin aufgewachsen waren, bald nicht mehr so geben würde, wie wir sie kannten – das ahnte damals natürlich keiner von uns.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen