: Ein Perverser in freier Wildbahn
Nicht nur hinter dicken Gefängnismauern wird gelaufen, auch „draußen“ läuft einiges schief
Sehr spät am Abend stieg ich in Stuttgart in den Regionalexpress. Ich kam zurück von einer einmaligen Laufveranstaltung. Ein Halbmarathon-Staffelwettbewerb. Fünf jugendliche Gefangene liefen insgesamt 21,1 km. Jeder ca. 4,2 km. Bei diesem Wettkampf nahmen 12 Anstalten teil, insgesamt liefen 60 Jugendliche im hessischen Rockenberg in der Strafvollzugsanstalt um die Wette. Natürlich hinter hohen Mauern und dreifach gesichert.
Nun also war ich auf dem Weg nach Hause. Es war Nacht und ruhig im Zug. Entspannt studierte ich eine Zeitung. Beim Halt in Reutlingen ging die Glastür unseres Abteils auf. Vier junge Erwachsene standen unter der Türschwelle und schauten durch den Wagen. Sie sagten kein Wort und gingen langsam, sehr langsam durch den langen Gang. Alle vier waren extravagant und doch modisch gekleidet. Cool würde man in ihrer Sprache sagen. Weiße Jeans, bis zur Kniekehle hängend. Offenes Hemd oder weißes Unterhemd, in ihrer Sprache Muscle-Shirt genannt. Goldketten da, Schmuck dort, aufgedrehte Frisuren.
Alle vier hatten sportliche Figuren, durchtrainiert, keine Frage. Allerdings hatte ich den Eindruck, nicht unbedingt auf meinem Fachgebiet, dem Laufen. Dem Aussehen nach zu urteilen liebten sie die schweren Gewichte und werteten den Gang des Abteils als eine Art Laufsteg. Es war imponierend, echt. Keiner machte Anstalten, sich zu setzten. Diese Inszenierung dauerte nur knapp eine Minute und schon waren sie wieder aus unserem Wagen draußen.
„Das ist ja pervers“, sagte beim Rausgehen noch einer, „habt ihr gesehen, die lesen ja alle.“ Erst vor wenigen Tagen ging die Meldung über den Ticker, dass Kinder zu wenig lesen, dass wir Eltern mit unseren Kinder zu wenig reden. Stattdessen hängen sie stundenlang vor der Glotze, keiner spricht, keiner antwortet auf ihre Fragen. Sie sind zu Konsumenten von dauerlallenden Moderatoren geworden. Ruhiggestellt für den Alltag.
Bei der Laufaktion vom Nachmittag, „Jugend bewegt sich über Grenzen“, hatten die Jungs sechs Wochen Zeit, sich im Knast auf die Staffeldistanz von 4,2 km vorzubereiten. Deshalb wurde in den vergangen Wochen in vielen Anstalten im ganzen Bundesgebiet – „über Grenzen“ – viel gelaufen.
Die Idee war nicht nur, die fünf besten Läufer einer Anstalt nach Rockenberg zu schicken, sondern so viele Jugendliche tatsächlich zum Laufen zu bringen. Bei dieser schwierigen Klientel war das eine echte Herausforderung. Und wird es auch in der Zukunft bleiben. Und doch hatten sich in manchen Anstalten über 20 Jugendliche zum Lauftraining angemeldet. Alles hinter Gitter, auf kleinen bis kleinsten Laufrunden. Überall erlebte ich beim Training in den jeweiligen Anstalten hoch motivierte Jugendliche. Motiviert zum Laufen und zum Wettkampf.
Doch sie haben es nicht gelernt, bei einer Sache dranzubleiben. Keiner zeigte es ihnen, keiner bot sich als Vorbild an. Sie sind es nicht gewöhnt, ganz ohne Aggression Schwierigkeiten zu überwinden, sich auf andere Weise „durchzubeißen“ als sich „durchzuschlagen“.
Umso erstaunlicher waren die Entwicklungen in der Vorbereitung. Wahrscheinlich am erstaunlichsten für die Jugendlichen selbst. Denn sie hatten vor allem sich selbst bewiesen, dass sie die notwendige Disziplin, den Einsatz und die Motivation aufbrachten, um in der Vorbereitung dranzubleiben. Sie wollten den Wettkampf und die Lauferei. Laufen ist bei dieser Erkenntnis nur Mittel zum Zweck. Es kann einer von vielen Mosaiksteinen sein, über den man die Jugendlichen erreichen kann.
Auf meiner Reise durch die Haftanstalten sah ich auf jeder Zelle einen TV-Apparat. Damit herrscht zwar Ruhe, zu einer positiven Persönlichkeitsentwicklung trägt dies allerdings wenig bei. Dazu brauchen wir mehr Personal, das sich mit dieser schwierigen Gruppe beschäftigt, und wir brauchen die dafür notwendige Ausstattung.
Meine Zeitung ließ ich irritiert im Zugabteil zurück. Schließlich möchte ich im Bahnhof in Tübingen nicht als Perversling von den vier Jungs beschimpft werden.
DIETER BAUMANN über LAUFEN
Fragen zum Training kolumne@taz.de Morgen: Jörn Kabisch über DAS GERICHT
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