: Zutexten und schweigen
AUS LAMBRECHTSHAGEN, HEILIGENDAMM UND ROSTOCK HEIKE HAARHOFF
Lambrechtshagen, zehn Autominuten westlich von Rostock, gelegen an der Bundesstraße 105 Richtung Bad Doberan. 2.988 Menschen leben hier, verteilt auf fünf Ortsteile. Die Feldsteinkirche liegt in der Abendsonne. Im evangelischen Begegnungshaus nebenan hat das Kommunalpolitische Forum, ein Verein, der der Linkspartei nahesteht, an diesem Maiabend ein Experiment vor. Vertreter der globalisierungskritischen Bewegung sollen mit der mecklenburgischen Bevölkerung diskutieren, über den bevorstehenden G-8-Gipfel im benachbarten Heiligendamm. Einen „Verständigungsversuch“ nennt Sabine Handrick das.
Sie ist die Pastorin von Lambrechtshagen. 41 Jahre ist sie alt, in der DDR aufgewachsen und wenig begeistert, „dass nun die Linkspartei sich im Vorfeld von G 8 als Verfechter demokratischer Grundrechte aufspielt“. Doch sie will nicht kleinlich sein. Die DDR ist lange her, und jetzt naht der Weltwirtschaftsgipfel. Genauer gesagt nahen die G-8-Proteste, vor ihrer Kirche.
Wer vom Camp in Reddelich zur Demonstration nach Rostock möchte, wer sich aus Rostock aufmacht, die Straßen nach Heiligendamm zu blockieren, der kommt zwangsläufig durch Lambrechtshagen mit seinen Höfen, Feldern und geharkten Vorgärten. Denn die Hauptverkehrsstraße, die Bundesstraße 105, dürfte während des Gipfelprotests dicht sein. Diese Sorge eint Polizei, Anwohner und Gipfelgegner. Was also, wenn die Demonstranten auf die Dörfer ausweichen, wenn sie die Ernte platt trampeln, auf Privatgrund campen oder in die Vorgärten pinkeln? Was, wenn die Anwohner nicht mehr zur Arbeit kommen, zum Arzt, zum Einkaufen?
100.000 zusätzliche und vor allem: fremde Menschen, die für eine Woche in diese ländliche Region einfallen – da wird es selbst der Pastorin mulmig. „Wir wollen darüber reden“, sagt sie zur Begrüßung, „was uns erwartet.“
Dreißig Menschen sind gekommen. Der Bürgermeister oder Vertreter der Verwaltung sind nicht darunter. „Die tun so, als hätten sie damit nichts zu tun, wie die Leute von A nach B kommen, aber das Problem wird kommen“, tuschelt eine Frau. „Wir haben ja nichts gegen die Proteste“, flüstert eine andere, „aber wir möchten schon wissen: Was machen wir, wenn es eskalieren sollte?“
Auf dem Podium stellen sich zwei Frauen und zwei Männer vor. Sie seien „Vertreter der Bewegung“. Matthias Monroy von der „Gipfelsoli Infogruppe“ lümmelt in dunkelgrauer Kapuzenjacke neben der Landtagsabgeordneten der Linkspartei, Birgit Schwebs. Daneben sitzen Susanne Große von „Block G8“, Sonnenbrille im Haar, und Monty Schädel vom „Rostocker Bündnis“. SHA steht auf seiner Jacke rechts vom Reißverschluss, LOM links. Die Zuschauer tragen Stoffhose und Blouson oder Jeans und Hemd.
Schädel, im Hauptberuf Bundesgeschäftsführer der Deutschen Friedensgesellschaft und einer der wenigen Ostdeutschen im inner circle der Protestbewegung, sagt gerade, Ziel sei, „dass diesmal von Rostock andere Bilder um die Welt gehen als die von den Pogromen 1992. Bilder, die zeigen, dass sich in Mecklenburg-Vorpommern Protest auch demokratisch artikulieren kann.“ „Sonst noch Vorurteile?“, murrt ein Mann hinten. Aber man hört ihn nur hinten.
Susanne Große zeigt einen Film über ein Blockadetraining, danach erklärt sie: „Es geht uns um die Infrastruktur. Wir machen die Straßen dicht, damit nichts durchkommt, was die Staatschefs brauchen, vom Übersetzer bis zum Klopapier.“ Ein Zuhörer steht auf, zaghaft wendet er ein: „Soll man wirklich die Brötchennachhut stören? Da sehe ich, dass Provokationen vorprogrammiert sind.“ Er trägt ein T-Shirt unterm legeren Leinensakko, vielleicht deswegen findet Große, dass sie ihn duzen soll: „Die Infrastruktur ist der richtige Ansatzpunkt. Ich weiß nicht, ob das deine Frage beantwortet.“ Der Mann setzt sich wieder hin.
Matthias Monroy hat auch was zu sagen. Er referiert die Einzelaktionen: Fahrradkarawane „shake g8“, Clown Caravan Bombodrom, African Day against G 8, Großdemonstration in Rostock, Antifaschistische Demonstration in Schwerin, Aktionstag Landwirtschaft, Transnationales Vernetzungstreffen, Glockenläuten rund um die Ostsee, Aktionstag Migration, Alternativgipfel, Sternmarsch, Music and Message, Konzert mit Grönemeyer. Dreißig Minuten Termine. Niemand unterbricht ihn. Manchmal ist norddeutsche Zurückhaltung keine Tugend.
„Ich würde gern wissen, wie Sie uns empfinden“, sagt Monroy in die Stille des Saals hinein.
„Lasst den Lauti durch!“
Adriane van Loh glaubt an solche anstrengenden Begegnungen, auf denen die eine Seite sich im Zutexten übt und die andere verdrossen schweigt. Es müssten alle einbezogen werden, sagt sie, „sonst kracht es“. Van Loh ist Mecklenburgerin, Mitglied der Linkspartei und arbeitet in Bad Doberan für die Landtagsabgeordnete Schwebs. Sie versteht sich als Mittlerin zwischen den Kulturen – hier die invasorischen Demonstranten, dort die misstrauischen Anwohner. Das Verhältnis sei schwierig; zehn Kilo, erzählt sie, habe sie in dem Jahr abgenommen, seit sie diese „Aufklärungsveranstaltungen“ landauf, landab organisiert.
Das Problem sei ja nicht, die Menschen vor Ort von der Unsinnigkeit des Gipfels zu überzeugen. Der freiheitberaubende Zaun um Heiligendamm, die immensen Kosten für das Land, die US-Marine als Küstenwacht – schon jetzt hätten die Leute die Nase voll. Das heiße aber nicht, dass die Protestler freudig begrüßt oder gar unterstützt würden.
Es gibt in Mecklenburg keine Erfahrung mit belagerungsartigen Zuständen wegen Großereignissen. Und vor allem gibt es kein Faible für Massenproteste – die Montagsdemonstrationen von 1989 gingen von Leipzig aus, nicht von Rostock oder Schwerin. Entsprechend groß sind das Unbehagen und die Teilnahmslosigkeit bei großen Teilen der Bevölkerung.
Eine Vorahnung dessen, was im Juni auf die Region zurollen dürfte, konnte man Ende April in Heiligendamm bekommen. Zum Tschernobyl-Jahrestag hatten sich 300 Atomkraftgegner, vornehmlich aus Hamburg, Bremen, Berlin und dem Wendland, aufgemacht, Deutschlands ältestes Ostseebad mit langatmigen Kampfansagen, der „Internationalen“ und anderen Lieblingshits der Bewegung zu beschallen. „Lasst mal den Lauti durch!“, dröhnte es über die Strandpromenade, bevor der klapprige Demonstrationsbus samt Lautsprecher in Sichtweite des G-8-Nobelhotels Kempinski zum Stehen kam und „VoKü für alle“, Fladenbrot und veganer Aufstrich ausgeladen wurden. Mitessen mochte keiner der ungläubig dreinblickenden Einheimischen, die den Zug zufällig kreuzten und schleunigst das Weite suchten.
„So wie uns nach 1989 dieses Gesellschaftssystem übergestülpt wurde, wird uns jetzt diese Protestkultur übergestülpt“, sagt Adriane van Loh, die Mittlerin zwischen den Kulturen.
Jule für die bessere Welt
Rostock-Evershagen, Bertolt-Brecht-Straße. Laster und Pkws rauschen an einschüchternden 13-Geschossern vorbei, dazwischen rumpelt die Straßenbahn. Heute lernt hier niemand mehr – die Ehm-Welk-Schule an der Ecke Knud-Rasmussen-Straße wurde schon letztes Jahr geschlossen. Bis zu ihrem geplanten Abriss haben im März die Gipfelgegner mit der Stadtverwaltung einen Nutzungsvertrag für den maroden vierstöckigen Plattenbau geschlossen.
In der Gipfelwoche wird die Schule „Convergence Center“ sein, Willkommens- und Schlafplatzbörse für Demonstranten, Presse- und Koordinierungsstelle für die unterschiedlichen linken Gruppen, Notunterkunft für Gestrandete. Das Lagezentrum der Linken gewissermaßen. Auf dem Dach weht die rotschwarze Fahne der Revolution, in den Fenstern hängen Transparente: „Block G 8“, „Gegen Polizeigewalt“, „Schnell am Drücker. Langsam im Kopf. Bundeswehr“. Draußen mahnt ein knittriger Zettel zum „Subotnik jeden Samstag ab 14 Uhr“. Die Einladung zum Sonntagscafé gilt „allen Interessierten zum gegenseitigen Kennenlernen“.
Fragt man Passanten, ob sie schon mal drin waren in der Schule, dann schütteln sie, wenn überhaupt, träge den Kopf. „Die Leute hier“, sagt einer der weniger Wortkargen, „sind mit sich selbst beschäftigt. Die sind froh, wenn dieser Rummel vorbei ist.“
Die Skepsis auf beiden Seiten sei groß, sagt in der Schule eine Frau mit Dreadlocks. Leere Flaschen stapeln sich neben Infomaterial zum Gipfel, aus einer provisorisch eingerichteten Küche dringt der Geruch gekochter Möhren. Die Mittzwanzigerin sagt, sie komme aus Berlin und man könne sie Jule nennen. Eigentlich studiere sie Sozialpädagogik, habe sich jetzt aber ein Urlaubssemester genommen, um zusammen mit etwa zwanzig Gleichgesinnten, die meisten aus Westdeutschland, in der Schule Wände zu streichen, Wasserleitungen zu reparieren, Telefonkabel zu verlegen, Sperrmüll aufzutreiben. Es ist ihr Beitrag für die Hoffnung auf eine bessere Welt.
Ihr Lebensstil, ihr Aussehen, ihre Sprache, ihre Herkunft – die jungen Leute aus dem Convergence Center wirken wie Fremdkörper im Stadtteil. Sie tun wenig dafür, diesen Eindruck zu ändern. Die Bedrohung gehe nicht von ihnen aus, sagen sie. Sondern von denen, in deren Revier sie vorübergehend eindringen: Seit den rassistischen Ausschreitungen Anfang der 90er-Jahre in Rostock-Lichtenhagen gelten ostdeutsche Plattenbausiedlungen vielen Linken als Synonym für Nazihochburgen.
„Lasst ihr Arbeiter raus?“
In Lambrechtshagen ist es Pastorin Sabine Handrick, die in die Offensive geht: „Also, ich würde schon gern wissen“, fragt sie die Vertreter der Bewegung, „wie stellen Sie sich das vor, Leute von Bützow nach Heiligendamm zu transportieren, wenn die B 105 dicht ist?“ Der Ton gereizt, der Blick steinern. Auch in der ersten Reihe wagt ein junger Mann mit ultrakurz rasiertem Haar eine Frage. Er hat erst kürzlich seine Hartz-IV-Existenz gegen einen Job auf dem Bau eintauschen können, er sagt: „Ich bin einer von den Arbeitern, die an euch vorbeimüssen, wenn ihr da demonstriert. Kann ich damit rechnen, dass ihr die Arbeiter durchlasst? Ich brauche das Geld.“
Die vier auf dem Podium antworten gern. Zum Beispiel: „Für private Zwecke ist die Hauptverkehrsstraße nicht so zu empfehlen.“ Oder: „Der kürzeste Weg zwischen zwei Punkten ist die Gerade.“ Oder: „Stellen Sie die Hollywoodschaukel und den Grill auf die Straße, wenn sowieso alles lahmgelegt ist.“ Und: „Ich würde mir wünschen, dass Fahnen aus dem Fenster gehängt werden, dass auch von den Anwohnern gezeigt wird: Ich will mich einmischen.“
Sie sehen aus, als fänden sie, es laufe gerade wirklich gut in Lambrechtshagen.
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