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„Ich fühle mich als Deutsche, aber Türkin klingt aufregender“

Am 1. Januar 2000 tritt die rot-grüne Reform des Staatsbürgerschaftsrechts in Kraft. Entgegen den ursprünglichen Plänen müssen deshalb demnächst 50.000 Jugendliche mit doppelter Staatsbürgerschaft eine davon aufgeben. Zeynep und Azra P. * leben in Berlin und rätseln: Welchen Pass geben wir ab?

DER DOPPELPASS

Der Plan: 1999 legt Rot-Grün seinen Entwurf zur Reform des Staatsbürgerschaftsrechts vor. Kinder von ausländischen Eltern, die in Deutschland geboren werden, sollen unter bestimmten Umständen die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten (Geburtsrecht). Einbürgerung soll schon nach acht Jahren möglich und nicht mehr davon abhängig sein, dass die bisherige Staatsangehörigkeit aufgegeben wird (doppelte Staatsbürgerschaft). Dagegen mobilisiert CDU-Kandidat Roland Koch im hessischen Landtagswahlkampf. Erfolgreich. Am Ende ist Koch Ministerpräsident, Rot-Grün ohne Mehrheit im Bundesrat und der ursprüngliche Gesetzentwurf passé. Das Gesetz: Im Mai 1999 beschließt der Bundestag (gegen die Stimmen der Union) ein Staatsbürgerschaftsrecht, das die doppelte Staatsbürgerschaft nur noch in Ausnahmefällen erlaubt. Für Kinder und Jugendliche wird das Optionsmodell aufgenommen: Wer nach dem Geburtsrecht den deutschen Pass erhält, soll sich mit 18, spätestens aber mit 23 Jahren entweder für die deutsche Staatsbürgerschaft oder für die der Eltern entscheiden. Die Auswirkungen: Die Anzahl der Einbürgerungen ist stark zurückgegangen. 7 Millionen haben hierzulande keinen deutschen Pass. Der Anteil der Ausländer ist weit höher als in anderen europäischen Ländern.

Ihre beste Freundin ist Deutsche. „Sie sagt immer: Du bist auch Deutsche. Du bist hier geboren, du sprichst fließend Deutsch, du lebst hier.“ Zeynep spielt mit den Fingern in ihren langen schwarzen Haaren, dann lächelt sie. „Aber ich sehe aus wie eine Türkin und ich bin auch eine.“

Zeynep ist 16, lebt in Berlin und ist – rein juristisch betrachtet – beides: Deutsche und Türkin. Sie hat die doppelte Staatsbürgerschaft. Noch. Wenn sie in zwei Jahren volljährig wird, bekommt sie einen Brief vom Bezirksamt. Darin wird stehen, dass sie sich entscheiden muss. Spätestens zu ihrem 23. Geburtstag muss sie eine der beiden Staatsbürgerschaften abgeben, sonst wird ihr automatisch die deutsche aberkannt.

Zeynep fällt unter die sogenannte Optionsregelung, eines der Ergebnisse der rot-grünen Reform des Staatsbürgerschaftsrechts, das im Jahr 2000 in Kraft trat (siehe Spalte). Insgesamt werden in den kommenden zehn Jahren 50.000 Jugendliche, die weitaus meisten von ihnen Deutschtürken, vor die Entscheidung gestellt: Wollen sie den deutschen Pass abgeben? Oder den aus dem Land ihrer Vorfahren? In diesem Jahr gehen die ersten Briefe raus, bundesweit sind es 3.100.

Wie entscheidet man sich für eine Staatsbürgerschaft? Was gibt den Ausschlag? Die Sprache, in der man träumt? Die Werte, die man teilt? Die Menschen, denen man sich zugehörig fühlt? Zeynep stellt die Frage anders: Welche Staatsbürgerschaft wäre von Vorteil für sie? Obwohl sie noch Zeit mit der Entscheidung hat, beschäftigt sie sich damit, und zwar schon seit zwei Jahren. Damals wechselte sie gemeinsam mit ihrer jüngeren Schwester auf die Berlin International School, eine englischsprachige Privatschule. Unter ihren neuen Mitschülern waren auch Diplomatenkinder.

„Da hatte ich die Idee, dass ich auch Diplomatin werden könnte. Für die Türkei.“ Dafür bräuchte Zeynep den türkischen Pass. Inzwischen will sie nicht mehr in den diplomatischen Dienst. Sie will Medizin studieren, wahrscheinlich auch im Ausland. Istanbul oder Ankara reizen sie nicht. „Viel zu chaotisch“, sagt sie.

Eher in Frage würden England oder die USA kommen. „Solange die Türkei nicht Mitglied in der EU ist, geht das mit einem deutschen Pass viel einfacher.“ Also soll es jetzt die deutsche Staatsangehörigkeit sein.

Die geräumige Altbauwohnung der Familie P. liegt in Berlins bürgerlichem Bezirk Charlottenburg. In dem großen, hellen Wohnzimmer steht eine hellbeige Ledergarnitur, dazwischen ein großer Glastisch, an der Wand hängt ein Miró. Es ist Sonntagnachmittag, Zeynep sitzt auf dem Sofa, daneben hat sich ihre 14-jährige Schwester Azra niedergelassen. Gegenüber sitzen in zwei Sesseln die Eltern. Zum Tee gibt es selbstgebackenen Nusskuchen. Es ist Ramadan, strenggläubige Muslime fasten jetzt.

Die Familie P. fastet nicht. Zeynep und Azra sprechen Deutsch, als wäre es ihre Muttersprache, ihre Noten in der Schule sind gut. Auch ihre Mutter kann perfekt Deutsch. Gemeinsam mit ihrem Mann betreibt sie ein gutgehendes Reisebüro. Viele Freunde der Familie sind deutschstämmig. Selbst konservative Politiker würden dieser Familie die deutschen Pässe sicher mit Kusshand in die Hände drücken. Doch die Begeisterung der Familie hält sich in Grenzen.

Der Vater ist 50. Er kam mit 22 als Student nach Deutschland. „Meine Mentalität, meine Tradition verbindet mich noch immer mehr mit der Türkei“, sagt der Betriebswirt. Er war viele Jahre lang der Vorsitzende des Türkisch-Deutschen Unternehmerverbands und ist jetzt Vizechef der Türkischen Gemeinde in Deutschland. „Ich sehe keinen Grund, das aufzugeben.“

Für ihn ist klar: Den deutschen Pass beantragt er nur, wenn er auch den türkischen behalten kann. Das habe mit seinem Zugehörigkeitsgefühl, aber auch mit ganz rationalen Überlegungen zu tun: Seine Eltern besitzen Grundstücke in der Türkei. Ohne türkischen Pass könnte das Erben kompliziert werden.

Er hat auf die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts gehofft – und ist bitter enttäuscht. „Für uns hat sich die Situation eher verschlechtert“, sagt er. „Vorher war die doppelte Staatsbürgerschaft zwar nicht gewollt, aber immerhin möglich, heute ist sie nahezu ausgeschlossen.“ Statt Türken für die Einbürgerung zu gewinnen, habe man sie mit den neuen Gesetzen abgeschreckt. „Das Gegenteil wäre richtig für die Integration.“

Die Mutter kommt mit frischem Tee aus der Küche zurück. „Mein Mann ist traditioneller als ich“, sagt sie und lacht ihn an. „Er fühlt sich unter Türken wohler.“ Für sie selbst sei das unwichtig.

„Du bist doch fast schon deutsch“, wirft Zeynep ein. „Deine Freundinnen sind auch alle deutsch oder zumindest keine richtigen Türkinnen.“

Ihre Mutter nickt. „Mit der typischen Türkin habe ich auch meine Schwierigkeiten“, sagt sie.

Sie ist 40 und kam mit acht Jahren nach Deutschland, ihre Eltern waren sogenannte Gastarbeiter. Heute sind sie in Rente und verbringen viel Zeit in der Türkei. Hier zu bleiben und Deutsche zu werden, das haben sie nie in Erwägung gezogen. Ihre Tochter hat in Deutschland Abitur gemacht und Erziehungswissenschaften studiert. Für eine „typische Türkin“ hält sie sich offenbar nicht. Aber wenn man sie fragt, wie sie sich selbst bezeichnen würde, antwortet sie nach kurzem Zögern: „Als Türkin.“

Lange hat sie auf den Doppelpass gehofft. Vergeblich. Jetzt hat sie beschlossen, den deutschen Pass zu beantragen. „Das hat aber nichts damit zu tun, ob ich mich deutsch fühle oder wie integriert ich bin“, sagt sie. Zwar sei ihr Lebensmittelpunkt hier und sie könne sich, „gerade als Frau“, auch nicht vorstellen, in der Türkei zu leben.

Die Frage mit dem Pass aber gehe sie sehr rational an: „Entscheidend sind die Kinder und was besser für uns ist.“ Wenn Zeynep und Azra tatsächlich im Ausland studieren wollen, sei mit dem türkischen Pass alles viel schwieriger. Außerdem, sagt sie, sei es sinnvoll, zweigleisig zu fahren: „Wenn mein Mann Türke ist und ich Deutsche, dann haben wir noch immer alle Möglichkeiten.“

Azra ist 14, sie geht in die neunte Klasse. Wie ihre Schwester trägt sie die Haare lang, doch sie ist ein hellerer Typ. Mit den grünen Augen und den braunen Haaren könnte sie auch als Italienerin durchgehen. Bis sie drei wurde und in den Kindergarten kam, hat sie – wie Zeynep auch – nur Türkisch gesprochen. „Ich wollte, dass sie ihre Muttersprache richtig lernen und darauf dann das Deutsche aufbauen“ erklärt ihre Mutter.

„Meine Eltern sind eher Türken, wir eher Deutsche“, sagt Azra.

Sie will den türkischen Pass behalten, doch alleine reicht er ihr nicht. „Ich spreche besser Deutsch als Türkisch und ich hatte immer einen deutschen Freundeskreis“, sagt sie. Deshalb will sie sich für die deutsche Staatsbürgerschaft entscheiden. „Ich will vielleicht auch mal im Ausland studieren“, wie ihre Schwester, das sei leichter mit dem deutschen Pass. „Und wenn die Türkei irgendwann so wird wie der Iran, dann kann man mit der Staatsbürgerschaft überhaupt nichts mehr anfangen.“ Doch, sagt sie weiter, „ich verstehe überhaupt nicht, warum ich mich entscheiden muss. Ich bin einfach beides.“

Neben ihr auf dem Sofa nickt Zeynep und sagt: „Ich würde auch gerne beide Pässe behalten.“ Doch ändern werde sich durch die Entscheidung für den deutschen Ausweis nichts. „Wenn mich dann jemand fragt, woher ich komme, werde ich weiter ‚Türkei‘ sagen.“

Warum denn das? „Ich fühle mich zwar eher als Deutsche, aber Türkin hört sich einfach aufregender an.“

SABINE AM ORDE, 42, ist stellvertretende Inlandsressortleiterin.

* Alle Namen von der Redaktion geändert

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