ORTSTERMIN: LINKE THEORIE IN DER ROTEN FLORA: Adorno hören und schlafen
Vielleicht drängen sich die Leute an diesem Abend in der Roten Flora, weil der Titel der Veranstaltungsreihe so schön schmettert: „Bullenwagen klauen und Adorno rezitieren“. Extrastühle müssen geholt werden, irgendwann kauert sich sogar ein Mann in Yogahosen in den Gang zwischen den Stuhlreihen. Das Durchschnittsalter liegt locker unter 30.
Im Hausflur steht die Luft kalt zwischen den Überbleibseln abgeblätterter Plakate, fängt sich der feuchte Herbst in unverputzten Backsteinbögen. Im Saal im ersten Stock der Flora atmen die dichtgedrängten Körper alles weg. Am Kopfende spricht der Publizist Norbert Trenkle über das Verhältnis von Theorie und Praxis in der Geschichte der Linken. Vor ihm staut sich die Art verbrauchter Luft, die Studenten aus Vorlesungssälen kennen.
Trenkle, Buchautor und Redakteur bei der linken Zeitschrift Krisis, entgleitet in die Theorie wie ein Dozent im Soziologie-Seminar, der aus Zeitgründen nichts vertiefen will, die Finger dann aber doch nicht von Marcuse lassen kann: So vorraussetzungsvoll und beispielleer, dass auch der letzte Fitzel Interesse von der Größe der Theorie geschreddert wird.
Trenkles Sätze über die Ideengeschichte des historischen Materialismus mäandern im Raum, er selbst bleibt versteckt hinter den Zuschauerköpfen. Der Beamer funktioniert auch nicht, weil sich irgendwer nicht richtig abgesprochen hat. Bleiben nur die bunt besprühten Wände, um den Geist wandern zu lassen. Wobei die dann wieder so dicht bemalt sind, dass sich jeder klare Gedanke verliert zwischen „Free Pussy Riot“-Parolen, Spinnweben, und Weben, die irgendwas anderes sein müssen.Weil sie so groß sind. Ob es in der Flora mal Monsterspinnen gab?
Als Trenkle beim Klassenkampf-Marxismus nach 1968 angekommen ist, hat eine Frau aus dem Publikum die Augen geschlossen – in sich gekehrte Konzentration oder Kapitulation? Ein Pärchen, das vorhin im Hausflur trotz Kameraverbots ein Selfie schoss, flüstert. Der eigene Sitznachbar fummelt die ganze Zeit am Etikett seiner Astra-Flasche und guckt nicht nach vorne, sondern lieber das blonde Mädchen in der schwarzen Komplettmontur an, das ihm im Gang gegenüber hockt. Als einzige hat sie einen Block gezückt, aber hält ihn auch nur so im Schoß. Irgendwo klirrt eine Flasche.
Vielleicht kennen alle hier Adorno auswendig. Vielleicht überlegen sie aber auch, wo man jetzt noch sein könnte: bei einer Bio-Bratwurst im überteuerten Pommesladen auf der anderen Straßenseite. Oder doch hier in der Flora, aber zwei Stunden später, wenn Bernadette La Hengst ein Konzert gibt.
“Es tun sich sicher Fragen auf“, sagt der Redner am Ende. Die Stille hängt kurz im Raum, einige gehen, bevor die erste Frage gestellt wird.
Nach einer Stunde muss man sich erst mal auf der Toilette Wasser ins Gesicht spitzen, um wieder richtig aufzuwachen. „Lasst uns die Revolte beginnen“, steht da an der Klowand. Im eigenen Block steht nichts von Adorno und auch keine Anweisung zum Bullenwagenklauen: Der Titel der Veranstaltung war lediglich eine Anspielung auf den Punk-Song „Bullenwagen klaun und die Innenstadt demolieren“. Im eigenen Block bleiben nur gekritzelte Nonsens-Männchen übrig, ferner ein rätselhafter Gedankensplitter zum traditionellen Marxismus und ein Satz: „Kapitalismus ist Prinzip“. „Prinzip“ ist zweimal unterstrichen. Schien einem dringlich vorzukommen. EVA THÖNE
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