: Erst die Stimme weckt das Wort
Lyrikbände sind ein Spartenprogramm, doch gesprochene Poesie ist durchaus massenkompatibel. Auf dem zum achten Mal stattfindenden Poesiefestival Berlin gibt es neben „klassischer“ Lyrik auch Performances und Poesieautomaten zu sehen
VON ANDREAS RESCH
Es ist schon komisch: Während sich Lyrik hierzulande so miserabel verkauft, dass es als Erfolg gilt, wenn tatsächlich einmal eine Auflage von dreihundert Exemplaren überschritten wird, erfreuen sich Gedichte – sobald sie vorgetragen werden – allergrößter Beliebtheit. Bestes Beispiel hierfür ist das Poesiefestival Berlin, das sich mit seinen jährlich mehr als zehntausend Besuchern zu einem wahren Publikumsmagneten entwickelt hat. Die Ursache für dieses Missverhältnis sieht Thomas Wohlfahrt, Leiter der Literaturwerkstatt und Organisator des heute beginnenden achten Poesiefestivals, vor allem darin, dass es beim stillen Lesen oft nicht recht gelingt, den Rhythmus eines Gedichts zu erfassen: „Denn die Stimme ist das Instrument, das die Notation der Zeichen zum Leben erweckt.“
Dieses Diktum würde sich gut als Motto für eine Großveranstaltung eignen, auf der an neun Tagen mehr als einhundert Dichter aus zwanzig Ländern lesen und es neben traditionell vorgetragener Lyrik auch Installationen sowie Tanz- und Musikperformances in allen denkbaren medialen Variationen zu sehen und vor allem zu hören gibt. Im „e.poesie“-Konzert etwa haben fünf Komponisten Gedichte von Lyrikern aus dem deutschsprachigen Raum – unter ihnen Gerhard Rühm und Monika Rinck – vertont. Dabei will das Poesiefestival, so Thomas Wohlfahrt, „mehr sein als eine reine Abspielfläche“. Was bedeutet, dass auch während des Festivals Lyrik produziert und übersetzt wird. Im Verlauf des Workshops „Versschmuggel“ übertragen Dichter aus verschiedenen Sprachräumen paarweise ihre Texte in ihre jeweiligen Muttersprachen, um sie anschließend an zwei Abenden vorzustellen.
Einer der Höhepunkte ist sicherlich die am heutigen Abend auf der Freilichtbühne im Volkspark Friedrichshain stattfindende „Weltklang – Nacht der Poesie“, wo unter anderem Literaturnobelpreisträger Derek Walcott sein Gedicht „Der verlorene Sohn“ lesen wird. „Vom Versmaß getragen / auf ruhigen Parallelen, las er lieber / die gleichmütig gleitenden Blöcke der Strophen / der sich stetig weitenden Fensterrahmen“, heißt es darin. Neben Walcott, dessen Langgedicht „Omeros“ – eine karibische Variante der „Odyssee“ – am nächsten Sonntag in einer Weltpremiere als szenische Fassung mit Schauspielern zu sehen sein wird, tragen auch der kolumbianische Dichter Fernando Rendón und der deutsche Lyriker Michael Lentz ihre Gedichte vor.
Schwerpunktland des diesjährigen Poesiefestivals ist Kanada. In der Ausstellung „Avatar. Digitale Poesie“ werden Werke eines Québecer Künstlerkollektivs gezeigt, die sich an der Schnittstelle von Dichtung, Klangkunst und Videoinstallation situieren. Oft geht es in ihnen um die Effekte der intermedialen Übertragung von Signalen – etwa um Sprache, die zu Musik wird. Wie in Jocelyn Roberts und Émile Morins „Leçon de Piano“, wo ein Klavier ohne Pianist eine aus einem Text generierte Melodie spielt. In Sabica Senez’ Installation „Où es-tu?“ wird der Zuhörer in einer Telefonzelle von Satzfragmenten und seltsam verfremdeten Geräuschen bedrängt, und in Jocelyn Roberts „L’Origine des espèces“ dient das Digitalfoto einer Schreibmaschine als Vorlage für ein Musikstück. Die beklemmende Atmosphäre, die durch diese Codeverschiebungen entsteht, erinnert bisweilen an die in David Lynchs Lo-Fi-Monumentalwerk „Inland Empire“.
Maschine gewordener Albtraum eines jeden Literaturkritikers ist die Installation „Censeo | Genero“ der Künstlergruppe Versfabrik – eine Weiterentwicklung von Enzensbergers „Poesieautomaten“. Während „Censeo“ aus einer Datenbank, die mit zigtausend Wörtern aus Reich-Ranickis „Frankfurter Anthologie“ gespickt ist, Rezensionen generiert („Aufrecht und schlank wie ein Turm stehen die Sätze auf dem Papier“), erzeugt „Genero“ in einem zweiten Schritt die dazu passenden Gedichte. Auch wenn der Automat zumeist kryptischen Unsinn produziert, gelingt ihm mit Versen wie „Zuerst begonnen, längst ein früher Vorbote“ durchaus respektable Anfängerlyrik. Sollten also die Verkaufszahlen von Gedichtbänden weiter sinken, könnten Verlage die Autorenhonorare einsparen und ihre Poesie von „Genero“ produzieren lassen. Einen großen Nachteil hätte das aber: Selbst vortragen kann er seine Gedichte nicht.
Poesiefestival Berlin 2007. Vom 23. Juni bis zum 1. Juli. Eintritt ab 2,50 Euro. Programm: literaturwerkstatt.org
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