: „Tinnitus ist nichts Fremdes“
Vortrag Ein Bremer Psychoanalytiker erklärt, was in der Behandlung der Ohrgeräusche falsch läuft
■ 52, ist in Bremen Psychoanalytiker in eigener Praxis und behandelt seit 18 Jahren Tinnitus-PatientInnen.
taz: Herr Tillmann, wie unterscheidet sich Ihre Behandlung von Tinnitus von der herkömmlichen?
Michael Tillmann, Psychoanalytiker: Ich gehe nicht davon aus, dass es sich bei den Ohrgeräuschen um eine Durchblutungsstörung oder einen Gehirndefekt handelt. Dazu muss man wissen, dass es für diese Annahmen keine Beweise gibt. Im Gegenteil, in der HNO-Forschung hält man die Durchblutungs-These für widerlegt. Und dass sieben Millionen Menschen – so viele sind in Deutschland betroffen – einen Gehirndefekt haben, halte ich für sehr unwahrscheinlich. Man weiß einfach nicht, wie das Symptom entsteht. Trotzdem werden die Betroffenen Therapien unterzogen, deren Wirkung nicht belegt ist, dafür viel Geld kosten. Die Krankenkassen zahlen vieles nämlich nicht, weil es nicht hilft.
Eine Möglichkeit ist, den Tinnitus mit anderen Geräuschen und Tönen zu bekämpfen. Was halten Sie davon?
Nichts. Ich rate nicht dazu, Stille zu vermeiden, sondern dazu, sie zu suchen, um mit dem Tinnitus in Kontakt zu kommen und heraus zu finden, welche Gefühle sich in ihm ausdrücken, die sonst keinen Ausdruck haben. Diese „Geräuschkulisse“ ist nichts Fremdes, was von außen kommt, sondern gehört in die eigene Lebensgeschichte.
Welche Gefühle sind das?
In der Regel geht es um massive Verlustängste, um eine nicht gelungene Loslösung. Das kann sich in einem Tinnitus äußern.
Das tut es offenbar immer häufiger.
Ja, die Tinnitus-Kliniken sind voll und wir beobachten eine erhebliche Zunahme unter Kindern und Jugendlichen. Ich bin überzeugt, dass das mit den dramatischen Veränderungen unserer Zeit zu tun hat, die bei vielen Menschen Geborgenheitsverlust und Ängste erzeugen.
Warum ausgerechnet Tinnitus?
Mich wundert das nicht. Wir sind einem visuellen Beschuss ausgesetzt, wie es ihn nie zuvor gegeben hat. Viele sitzen den ganzen Tag vorm Monitor, der Sehsinn wird immer wichtiger. Was zu kurz kommt, ist der Hörsinn, das Lauschen. Gleichzeitig will man nichts mehr hören von der Welt, die als bedrohlich erlebt wird.
Und wer eine Therapie macht, wird die daraus resultierenden Ohrgeräusche los?
Häufig schwellen die Töne ab, sie können auch verschwinden. Versprechen kann ich das aber vorher nicht. Interview: eib
Vortrag „Wer nicht fühlen will, muss hören“: 11 Uhr, Haus der Wissenschaft, Sandstr. 2
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen