: Brummtöne des Irrsinns
SCHRIFTEN Anders Bering Breivik schrieb 1.500 Seiten, Gaddafi und Mao bloß 150. Ein irres Traktat über irre Traktate
VON ARNO FRANK
Niemand wollte lesen, was er schrieb. Unsäglich litt der Autor unter dem Spott und der Ignoranz einer Welt, der er doch eigentlich Essentielles mitzuteilen hatte. Der Besitz der Wahrheit, er machte den Autor einsam und wunderlich. Als die Welt dann mit jahrzehntelanger Verspätung doch noch einsehen musste, dass sie von ihm erschöpfend erklärt worden war, kannte seine Freude keine Grenzen mehr. Seine Werke, schrieb er, hätten „eingeschlagen“, dass es „nur so kracht“. Und dabei würde es nicht bleiben, vermutete er: „Und es wird noch viel besser kommen: Noch sehr viele Jahre hindurch wird mein Ruhm wachsen, und zwar nach den Gesetzen einer Feuersbrunst“.
Arthur Schopenhauers „Welt als Wille und Vorstellung“ und seine abenteuerliche Rezeptionsgeschichte lehrt, dass oft nur im Auge des zeitgenössischen Betrachters liegt, was ein irres Traktat ist – und was ein philosophisches Meisterwerk. Oft liegt’s auch einfach am Benehmen des vom akademischen Betrieb prinzipiell gekränkten Autors. Schopenhauer ist, wie übrigens auch Ludwig Wittgenstein mit seinem „Tractatus logico-philosophicus“, mit dem tendenziell eben irren Gestus angetreten, geistige Suchbewegungen von mehreren Jahrtausenden mal eben zum Abschluss zu bringen.
Ein Heilsversprechen
Dazu gehört notwendigerweise, dass sowohl der Quatschkopf als auch das Genie im Kern immer eine einzige einfache Antwort auf ein ganzes Bündel komplexer Fragen auf Lager hat. Deshalb wird dieser Kern, seine zentrale Aussage, von seinem Urheber auch so vehement vertreten. Es ist sein Heilsversprechen, und der Ehrenmann hält sein Versprechen. Notfalls mit Gewalt.
Wer sich die Mühe macht, die mehr als 1.500 Seiten umfassende Selbsterklärung des Anders Behring Breivik tatsächlich zu lesen, merkt schnell, dass dies die Mühe nicht lohnt. Allein das Monstrum von einem Titel – also das Deckblatt der Word-Datei – ist an gespreizter Kulturhuberei kaum zu übertreffen. „2083 – A European Declaration of Independence. De Laude Novae Militiae Pauperes Commilitones Christi Templique Solomonici“, das will Science-Fiction, Staatsrecht und hagiografische Streitschrift zugleich sein, enthält freilich nur Unverstandenes und Halbverdautes. Dabei kokettiert der Killer mit seiner Außenseiterposition und spekuliert auf die Gunst der Nachwelt, als wäre er ein ganz Großer.
Ist es nicht gerade das Praktische an der freiherrlichen Funktion „CTRL + C“, dass nicht durchdrungen werden muss, was kopiert werden kann? Was nicht aus rechten Blogs stammt, sind detaillierte Anleitungen zum Bombenbau und banale Selbstauskünfte wie die, welche Ballerspielen Breivik bevorzugt („Modern Warfare II“).
Seine Leser fand es trotzdem: So resümierte die Frankfurter Allgemeine Zeitung aufgeschlossen, es handele sich um einen inneren „Monolog aus der gesellschaftlichen Mitte, ein Echo der endlosen Tiraden gegen die Welt, wie sie ist, ein Echo aus den Foren in den Weiten des Netzes“, während die Süddeutsche Zeitung nicht darüber hinauskam, sich über Parallelen zu den Romanfiguren von Henning Mankell und Stieg Larsson zu wundern. Die Welt will „eine krude Mischung aus zusammenkopierter Theorie, kulturkritischen Aphorismen, romanhaften Tagebucheintragungen“ gelesen und zugleich den Versuch eines Außenseiters gewittert haben, seine kümmerliche Weltsicht „zur Großtheorie hochzurechnen“.
Tatsächlich hat Breivik nicht einmal sein direktes Vorbild kapiert, den ähnlich durchgeknallten Mathematiker und sogenannten Unabomber („university and airline bomber“) Theodore Kaczynski, der von einer windschiefen und stromlosen Holzhütte in Montana aus die US-Gesellschaft mit per Post verschickten Rohrbomben in Angst und Schrecken versetzte. Dessen Manifest („Die industrielle Gesellschaft und ihre Zukunft“) ist im pseudowissenschaftlichen Pluralis Majestatis gehalten, der Verfasser begrüßt in väterlich dozierendem Ton den baldigen Untergang unseres technologischen Zeitalters: „Wir glauben, dass eine Entscheidung in den nächsten Jahrzehnten, in vierzig bis hundert Jahren fallen wird“, womöglich ja genau 2083. Neben den üblichen und von Breivik paraphrasierten Ausfällen gegen linksliberale Strömungen gelingen Kaczynski aber auch immer wieder luzide Alltagsbeobachtungen: „Ein Fußgänger ist in seiner Freiheit stark eingeschränkt. In den Städten muss er ständig an den Fußgängerampeln warten, die hauptsächlich dem Autoverkehr dienen. Auf dem Lande ist der Autoverkehr gefährlich und unangenehm, wenn man entlang der Autobahn läuft.“ Könnte so auch im Tagebuch einer Claudia Roth stehen.
Betuliche Beduinenbibel
„Das grüne Buch“ von Muammar al-Gaddafi beispielsweise ist von schlichter Wucht. Es verspricht gleich im ersten Kapitel die „endgültige Lösung“ eines Problems, an dem seit Plato vor mehr als 2.000 Jahren noch jeder gescheitert ist: Wie sollten Menschen idealerweise regiert werden? Der Oberst verwirft Kapitalismus und Kommunismus, um dann mit der „Dritten Universaltheorie“ rauszurücken: der völkische Sozialismus als ideale Regierungsform arabischer Gesellschaften. Freut man sich zunächst über klare Hauptsätze und lebensweltliche Beispiele, dämmert rasch, dass sich hier jede Kausalkette heillos verheddert, jede Suche nach einem echten Gedanken im Wüstensand verläuft. Eine betuliche Beduinenbibel, die ihren Erfolg nur dem enormen Engagement ihres Autors verdankt.
Das rote Buch
Der setzt Hebel in Bewegung, die einer geheimen Allmachtsfantasie von Günter Grass entsprungen sein könnten. Gaddafi gründet ein „Internationales Institut zur Erforschung und Verbreitung“ seines eigenen Gefasels, verleiht dem nebulösen Text sogar Verfassungsrang und liest bei jeder Gelegenheit mit wedelndem Zeigefinger daraus vor, als wär’s ein Evangelium.
Staatlich verordnete Lektüre war auch das „rote Buch“ des Großen Vorsitzenden Mao, ein Kompendium zusammenhangsloser Zitate ohne Hand und Fuß, dafür aber mit umso froherer Botschaft: „Die Welt schreitet vorwärts, die Zukunft ist glänzend, und niemand kann diese allgemeine Tendenz der Geschichte ändern.“ Während der Studentenunruhen in Europa war es unter Linken schick, die „Mao-Bibel“ immer zur Hand zu haben – und in China galt es während der Kulturrevolution gar als schicklich, sich auf der Straße mit einem der rätselhaften Zitate zu begrüßen. Der Wunsch eines jeden dummen Arschlochs, alle Welt auf seinen Text zu verpflichten – manchmal wird er, man denke nur an „Mein Kampf“, zeitweilig Wirklichkeit.
Vielleicht kann man das wahrhaft wahnhafte Traktat daran erkennen: Es liefert nie Erkenntnisse, aber immer einen den Irrsinn der Welt begleitenden Brummton.
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