: Ein Mann in den besten Jahren
EXQUISIT Schön zu haben: David Mazzucchellis Comic „Asterios Polyp“
VON CHRISTOPH HAAS
In den Jahren 1986 und 1987 gehörte David Mazzucchelli zu den Shootingstars des US-amerikanischen Mainstream-Comics. Nach Szenarios von Frank Miller, der gerade mit dem finsteren „Batman“-Abenteuer „The Dark Knight Returns“ triumphiert hatte, legte der junge Zeichner zwei sensationelle Werke vor. „Born Again“ stellte den Mythos des blinden Superhelden Daredevil auf eine neue Basis; „Year One“ schilderte, wie Bruce Wayne zu Batman wurde. In der ersten Miniserie zeigte Mazzucchelli sich künstlerisch noch stark von Miller beeinflusst, in der zweiten gelang es ihm, die expressive Schwarzweißtechnik von Milton Caniff und Alex Toth schlüssig in einen farbigen Comic zu übertragen.
Mazzucchelli hätte ein Idol der Fanboys werden können, einer, bei dessen Signierstunden sich endlose Schlangen bilden. Stattdessen brach er radikal mit der Welt der kostümierten Helden und begann unabhängig zu arbeiten. Zwischen 1991 und 1993 gab er das großformatige Magazin Rubber Blanket heraus, von dem drei Ausgaben erschienen und in dem er überwiegend seine eigenen, fantastisch-rätselhaften Kurzgeschichten publizierte. 1994 machte er aus Paul Austers Roman „City of Glas“ eine Graphic Novel; seinen Lebensunterhalt verdiente er sich an Kunsthochschulen und als Illustrator für den New Yorker.
Nun ist sein kleines, exquisites Oeuvre um einen dicken Band reicher. Fast 50 Jahre hat Mazzuchelli werden müssen, um die erste lange Geschichte, für die er sowohl als Texter als auch als Zeichner verantwortlich ist, fertigzustellen. Am Anfang von „Asterios Polyp“ steht eine Katastrophe: Ein gewaltiger Blitzschlag legt die schicke New Yorker Wohnung der Titelfigur in Schutt und Asche. Asterios flieht und kehrt nicht mehr zurück. Mit seinem letzten Geld kauft er sich ein Greyhound-Ticket. Irgendwo in den Tiefen der nordamerikanischen Provinz steigt er aus und findet Unterschlupf bei einem freundlichen Automechaniker und dessen fülliger, Pfeife rauchenden Ehefrau, die gern über ihre schamanistischen und linken Überzeugungen plaudert.
Parallel dazu entfaltet sich in Rückblenden der Lebensweg von Asterios. Als Nachfahre griechischer und italienischer Migranten geboren, entwickelt er sich zu einem berühmten Architekten. Bedeutend ist er allerdings nur als Theoretiker und Hochschullehrer, nicht als Praktiker: Keiner seiner kühnen Entwürfe wurde je gebaut. Außerdem ist er nicht nur ein unerträglich eitler Kerl, der glaubt, zu allem und jedem etwas sagen zu müssen, sondern auch ein unverbesserlicher Womanizer. An beidem zerbricht seine Ehe mit der hochbegabten Bildhauerin Hana. Als Mann in den besten Jahren steht Asterios plötzlich mit leeren Händen da.
Im Grunde ist „Asterios Polyp“ eine einfache Geschichte von Aufstieg und Verblendung, von Fall und Erlösung. Und weil es so einfach – und das heißt wohl auch: so uramerikanisch – dann doch nicht sein sollte, hat Mazzucchelli um alles ein paar intellektuelle Ranken geschlungen. Also gibt es Exkurse in die Theorien der Architektur, der Bildhauerei und der Erinnerung; außerdem geistert durch Asterios’ Träume sein tot geborener Zwillingsbruder Ignazio, der auch als Erzähler auftritt.
Das stört den Lesefluss und wirkt ein bisschen überambitioniert – allerdings muss man zugeben, dass die Einfälle, mit denen Mazzucchelli Bildungsgut grafisch umzusetzen versteht, brillant sind. An einer Stelle wird etwa der platonische Mythos zitiert, nach dem alle Liebe, alles Begehren daher rührt, dass die Menschen einst aus zwei Individuen bestehende Kugelwesen waren, die seit ihrer Trennung durch Zeus verzweifelt ihre verlorenen Partner suchen. Illustriert wird dies durch mehrere kreisförmige Panels, die Asterios mit verschiedenen Geliebten zeigen.
Die Zeichnungen in „Asterios Polyp“ sind weder realistisch noch funnyhaft, sondern, in wechselnder Gewichtung, beides zugleich. Als Vorbilder schimmern mit Al Capp und Chester Gould zwei Meister des klassischen US-amerikanischen Comic-Strips durch. Großartig ist, wie Mazzuchelli die stumme Sprache von Mimik und Gestik wiederzugeben versteht: Die unsägliche Arroganz von Asterios spiegelt sich schon in seiner Art, eine Zigarette zu rauchen; Hanas Schüchternheit wird darin deutlich, wie sie hockt, sitzt oder sich Haare aus dem Gesicht streicht.
So gewinnt das Alltägliche eine poetische Qualität, am anrührendsten in jenem Kapitel, das unter fast völligem Verzicht auf Worte scheinbar belanglose Momente aus dem Eheleben der beiden assoziativ aneinanderreiht. Und dass Mazzucchelli sich wenig später erlaubt, auf das Happy End, das schon sicher scheint, zu verzichten – das tut dann weh, richtig weh.
■ David Mazzucchelli: „Asterios Polyp“. Deutsch von Thomas Pletzinger. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2011. 344 Seiten, 29,95 Euro
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