: „Das Kino wurde abgerissen“
Ich habe meinen Vater immer gern auf der Arbeit besucht. Er war Filmvorführer im Grenzkino Vox in der Bernauer Straße, das nur ein paar Meter von unserer Wohnung entfernt lag. Die Leute aus der DDR konnten hier bis zum August 1961 für wenig Geld Filme sehen, die in Ostberlin gar nicht oder erst viel später liefen. Der Eintritt hat 25 Pfennig gekostet, wenn ich mich richtig erinnere. Es gab damals etliche solcher Kinos, in allen Sektoren, im britischen, im französischen und im amerikanischen.
Das Vox war den ganzen Tag geöffnet, die erste Vorstellung lief schon um zehn Uhr morgens. Mittags habe ich meinem Vater das Essen zur Arbeit gebracht – da hat es oft etwas länger gedauert, bis ich den Kinosaal durchquert hatte. Besonders wenn ein Western lief, den mir mein Vater sonst nicht erlaubt hätte. Ich war damals ja erst acht Jahre alt.
Das Vox-Kino wurde im Oktober 1953 eröffnet. Es hatte ungefähr 600 Sitzplätze und war auf dem neuesten Stand der Technik. Das Kino hatte eine große Bühne und eine tolle Akustik, die Filme liefen im Cinemascope-Verfahren. Im Vorprogramm kamen immer noch die Nachrichten in der Wochenschau. Das Kino war Tag und Nacht gut besucht.
Der Eintritt war auch so billig, weil die Grenzkinos steuerlich subventioniert wurden. Der Filmoffizier der US-Militärregierung hatte 1950 die Idee gehabt, so die Werte der freien Welt auch den Bewohnern im sowjetischen Sektor zu vermitteln.
Die Filme habe ich bei meinem Vater im Vorführraum gesehen. Ich hatte meinen eigenen Hocker, manchmal bekam ich eine Handvoll Mokkabohnen oder ein Eis spendiert. Im Sommer war es drückend heiß, der Filmprojektor erzeugte eine unglaubliche Hitze. Die Zelluloidfilme waren brennbar, deshalb musste jemand daneben sitzen, um aufzupassen. Falls ein Brand ausbrach, konnte der Vorführraum abgeschottet werden, um die Zuschauer im Kinosaal zu schützen.
In der Nacht vom 12. auf den 13. August 1961 hatte mein Vater seine letzte Filmvorstellung. Er kam spät nach Hause, schlief sich erst mal aus – und als wir am nächsten Morgen aus dem Fenster schauten, war Stacheldraht quer über die Straße gespannt.
Das Kino wurde sofort nach dem Mauerbau geschlossen, später wurde es abgerissen und durch den Wohnblock ersetzt, in dem ich heute lebe. Mein Vater wurde arbeitslos, fand aber zum Glück wieder schnell eine neue Stelle.
■ Klaus-Peter Elle, 58, hat sein ganzes Leben in der Bernauer Straße in Berlin-Wedding gewohnt – mit direktem Blick auf die Mauer.
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