: Alter Bahnhof, neuer Lieblingsfeind
S 21 Seit fünf Jahren demonstrieren Stuttgarter Bahnhofsgegner jeden Montag – heute sind die Grünen der Prellbock der Bewegung
AUS STUTTGART LENA MÜSSIGMANN
Seit 250 Wochen kommt die Reiterstaffel in die Stadt. Seit 250 Wochen sperrt die Polizei mehrere Straßen für die Montagsdemo. Seit 250 Wochen packen Demonstranten gelbe Flaggen ein, heften sich grüne Buttons mit der Aufschrift „oben bleiben“ an und kommen in die Stuttgarter Innenstadt. Seit 250 Wochen demonstrieren sie gegen das umstrittene Bahnprojekt S 21 – „aus Liebe für mein Stuttgart“, so steht es auf einem Plakat.
Zum Demo-Jubiläum am vergangenen Montag sind nach Zählung der Initiative Parkschützer 7.000 Menschen vor den Stuttgarter Hauptbahnhof gekommen, laut Polizei waren es 3.700. So viele sind es nicht jedes Mal.
Eine Demonstrantin mit buntem Schal, schwarzer Lederjacke und grauem Haaransatz ist stolz auf das, was die Bewegung geschafft hat. Für sie ist der Montag ein Muss. Bei 210 Demos sei sie dabei gewesen. Ihre Urlaube lege sie sich so, dass sie montags wieder in der Stadt sei: „Das Projekt kann noch gestoppt werden“, sagt sie. Die Bewegung fordert nach wie vor, am überirdischen, bereits teilweise abgerissenen Kopfbahnhof festzuhalten – und will weiterdemonstrieren.
In den vergangenen fünf Jahren hat der S-21-Protest schon bessere Zeiten erlebt, 2009 bis 2011 gingen regelmäßig Tausende gegen das Projekt auf die Straße. Der „Schwarze Donnerstag“ im September 2010 mit dem Wasserwerfereinsatz gegen Demonstranten markierte die Spitze des Widerstands. Nach der Volksabstimmung 2011, die zugunsten des Projektes ausfiel, flachte das Interesse ab.
Nur der harte Kern hält durch – ist stur geworden, vielleicht ein bisschen verbittert. Walter Sittler, Schauspieler und prominenter S-21-Gegner, richtete bei der Montagsdemo einen Appell an seine Mitstreiter, der viel über die Stimmung erzählt: „Beharrliche, nachvollziehbare, gut informierte Argumentation, klare Haltung, das wird am Ende die politische Kultur befördern – keine kleinliche Rache, kein Nachtreten, keine Rechthaberei.“
Die Grünen, die sich an das Ergebnis der Volksabstimmung gebunden fühlen, sind der neue Prellbock der Bewegung. Volker Lösch, Theaterregisseur und charismatischer S-21-Redner, sagte am Montag: „Das grenzenlose Vertrauen und das Einlassen auf die Grünen als Vertreter der Bürgerbewegung war der vielleicht schmerzlichste Fehler.“ Die Grünen hätten sich zur „erschreckend opportunistischen Mainstreampartei“ gewandelt, den Stuttgarter Oberbürgermeister Fritz Kuhn (Grüne) nennt er „OB Wendehals“, weil er sich vom einst kritischen Begleiter des Projekts zum Vordenker der Bebauung freiwerdender Gleisflächen gewandelt habe.
Lange war unklar, ob die Jubiläumsdemo vor dem Hauptbahnhof stattfinden kann. Die Stadt bot eine Seitenstraße an, in der die Demo weniger Verkehrsbehinderungen für Weihnachtsshopper und Pendler verursacht hätte. Die Demo-Veranstalter zogen vor das Verwaltungsgericht und bekamen Recht. Die 250. Montagsdemonstration habe eine hervorgehobene Bedeutung und es bestehe das Recht, einen „attraktiven“ Veranstaltungsort dafür zu beanspruchen.
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