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„Das Foto nimmt einen doch sehr gefangen“

TEILHABE Die Stadt Celle hat auf anonymisierte Bewerbungsverfahren umgestellt, um unbewusste Diskriminierungen auszuschließen. Oberbürgermeister Dirk-Ulrich Mende (SPD) erklärt, warum er seitdem mehr Mitarbeiter mit Migrationshintergrund gewonnen hat

Dirk-Ulrich Mende

■ 57, ist seit fünf Jahren der erste SPD-Oberbürgermeister von Celle. Für ein Pilotprojekt der Antidiskriminierungsstelle des Bundes stellte er das Bewerbungssystem 2011 um.

taz: Herr Mende, die Türkische Gemeinde in Deutschland und die Antidiskriminierungsstelle des Bundes regen anonymisierte Bewerbungsverfahren an. Celle setzt seit vier Jahren darauf. Was ist ohne Foto, Namen und Angaben zum Alter und Geschlecht anders?

Dirk-Ulrich Mende: Man konzentriert sich darauf: Was hat die Person gemacht, welche Qualifikationen bringt sie mit. Da leuchtet jemand, der mehrere Sprachen beherrscht, in einem ganz anderen Licht, wenn man nicht mehr sehen kann, ob das jemand mit einem deutschen oder einem türkischen Hintergrund ist.

Haben Sie dadurch mehr Mitarbeiter mit Migrationshintergrund eingestellt?

Wir haben auf ein internetgestütztes Verfahren umgestellt, damit inzwischen rund 3.000 Bewerbungen gesichtet und weit über 50 Verfahren durchgeführt. Unsere Integrationsbeauftragte, aber auch der Chef der Stadtwerke besitzen heute einen Migrationshintergrund. Aber es ist kein Förderprogramm für Menschen mit Migrationshintergrund. Es schließt nur aus, dass nach Geschlecht, nach Alter oder nach Herkunft diskriminiert wird.

Ist das denn früher passiert?

Zumindest nicht bewusst. Wir haben schon immer nach Leistung und Befähigung eingestellt. Aber auch bei uns wurde früher als Erstes auf das Bewerbungsfoto geschaut. Und das allein nimmt einen in der Tat doch oft sehr gefangen – es prägt, wie man anschließend mit der ganzen Bewerbung umgeht.

Wissen Sie denn, wie viele Ihrer Mitarbeiter einen Migrationshintergrund besitzen?

Nein, ich kann das nicht in Zahlen fassen. Bei vielen unserer Beschäftigen lässt sich kaum feststellen, ob sie einen Migrationshintergrund haben oder nicht. Natürlich lassen manche Namen darauf schließen. Aber bei manchen russischstämmigen Migranten oder Aussiedlern, die einen urdeutsch klingenden Namen tragen, ist das schon etwas schwieriger. Das lässt sich letztlich nur durch eine freiwillige Befragung ermitteln. Die Frage nach der Herkunft möchte ich aber aufgrund der deutschen Geschichte genauso wenig stellen wie die nach der Religionszugehörigkeit. Und die andere Frage lautet: Ist jemand, der in der zweiten oder dritten Generation hier lebt, noch Migrant? Wenn ich diese Frage bejahe, dann bin ich schnell bei denen, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem heutigen Polen zugewandert sind. Die Kategorie ist also nur bedingt brauchbar.

Wie können Sie dann Fortschritte messen? Haben Sie sich eine Zielmarke gesetzt?

Als ich 2009 herkam hatte ich den Eindruck, dass wir in einigen Bereichen bereits einen relativ repräsentativen Anteil von Mitarbeitern mit Migrationshintergrund hatten. Das betraf aber vor allem die einfachen Arbeiten. Im Bereich der besonders qualifizierten Tätigkeiten und höheren Besoldungsstufen sah es ganz anders aus.

Welche Ursachen hatte das?

Für viele Einwanderer und deren Kinder war und ist ein Verwaltungsstudium zum Beispiel keine Selbstverständlichkeit, viele haben andere Berufsbilder im Kopf. Ich will das deshalb lieber über das Angebot steuern als über Quoten. Und ich kann sagen, dass heute immer mehr Leute auf dem Markt sind, die klasse ausgebildet sind.

Werden Sie oft als Experte in Sachen interkultureller Öffnung angefragt?

Ja. Mein Personalchef referiert dazu sogar in Österreich oder in der Schweiz, er ist bestimmt 30-mal im Jahr unterwegs gewesen. Das Thema ist virulent, und wir freuen uns, da mit der Antidiskriminierungsstelle des Bundes etwas angestoßen zu haben.

Trotzdem sperren sich manche dagegen. Die Polizeigewerkschaften etwa reagierten allergisch, als im Zuge der NSU-Affäre gefordert wurde, sie sollten mehr Migranten einstellen.

Ein Kulturwandel braucht immer seine Zeit. In Niedersachsen waren die Polizisten übrigens die Ersten, die gesagt haben, ohne die Kompetenz unserer Kollegen mit Migrationshintergrund sind wir gar nicht mehr in der Lage, unsere Aufgabe zu erfüllen. Die Auswahlverfahren sind in den einzelnen Ländern aber auch sehr unterschiedlich organisiert.

Wieso spielt das eine Rolle?

Diejenigen, die diese Tests konzipieren, müssen sich im Klaren sein, dass bestimmte Fragen womöglich nur mit dem deutschen kulturellen Hintergrund verständlich sind. Das ist so wie bei „Wer wird Millionär“: Da sind die ersten vier Fragen unglaublich einfach. Aber wer nicht in Deutschland groß geworden ist, der scheitert womöglich, weil er die feinen Unterschiede nicht kennt. Diskriminierungsfrei zu fragen ist eine Kunst. Da muss man sich anstrengen und ein Bewusstsein dafür entwickeln.

INTERVIEW DANIEL BAX

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