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die taz vor 15 jahren über generationsübergreifenden rassismus im osten

Ein Foto im Lokalteil einer Tageszeitung: eine Szene vor der Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber im brandenburgischen Eisenhüttenstadt, wo nächtelang Steine und Brandsätze gegen Ausländer flogen: Eine Frau im Jogginganzug, an die vierzig mag sie sein, packt ihren steinewerfenden, mit Kapuze und Halstuch vermummten Sohn bei der Bomberjacke und schüttelt ihn. Ein Foto, das auf der Netzhaut haften bleibt, weil es Seltenheitswert hat in diesen Tagen. Seit Rostock gewinnt man den Eindruck, 13-, 15-, 17jährige Burschen kämen heutzutage als brandschatzende Fertigjugendliche auf die Welt. Elternlose Wesen, von pädagogischen Bemühungen unberührt, von sämtlichen Sozialisationsinstanzen ferngehalten. Keine Elternversammlung meldete sich bisher zu Wort, von keiner Lehrerkonferenz war zu hören, die angesichts des offenkundigen Versagens den pädagogischen Bankrott anmeldete: Was, bitte schön, haben Familie und Schule getan, daß Kinder jetzt wie außer Rand und Band vor Asylheimen grölen?

Viele Erwachsene stärkten ihren Kindern beifallklatschend den Rücken. Eine selten dagewesene, eine unheimliche Einigkeit zwischen den Generationen, die gerade in Ostdeutschland genug Anlaß hätten, sich aneinander zu reiben. Aber gibt es sie denn wirklich nicht, die anderen Erwachsenen? Eltern, Lehrer, die nicht billigen, was dort in Rostock geschah? Die eigenen Probleme mögen im Osten der Republik derzeit vieles erklären, aber nicht entschuldigen: Eltern und Lehrer fühlen sich überfordert, die Suche nach einer beruflichen Perspektive kostet viel Kraft, und die eigene Unsicherheit macht es nicht gerade leicht, den Kindern eine Orientierung zu geben. Doch hätten die pädagogischen Instanzen wenigstens den einen Wert vermitteln können: daß nichts die Hatz auf Menschen oder die Todesstrafe rechtfertigt. Von dieser Unterlassungssünde kann man auch noch so gestreßte Eltern nicht freisprechen.

Vera Gaserow, taz, 12. 9. 1992

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