: Clausewitz der Politik
Joachim Raschkes und Ralf Tils’ Buch über politische Strategien verdeutlicht die praktische Bedeutung der Politikwissenschaft
Die SPD hat eine „Führungsakademie der sozialen Demokratie“ gegründet, um ihren Spitzennachwuchs künftig systematisch zu fördern. 42 Kader sollen zwei Jahre lang zur „Führungspersönlichkeit“ geschmiedet werden, der „vorsorgende Sozialstaat“ wird ihnen dabei ebenso nahegebracht wie die Globalisierung und die Schlagfertigkeit, verbale Angriffe gekonnt abzuwehren. Allerdings fehlt auf dem Lehrplan, woran es der Partei schon seit längerem am offensichtlichsten mangelt: politische Strategie.
Die SPD beherrscht zentrale Elemente des politischen Handwerks nicht mehr, und sie kann sich allenfalls damit trösten, dass es der Union über weite Strecken nicht besser ging und auch die kleinen Parteien ihre spezifischen Defizite auf diesem Feld aufweisen. Das ist insofern verwunderlich, als die Engführung politischer Handlungsräume unter den Bedingungen einer postnationalen Demokratie, die Organisation widerlaufender Interessen bei abnehmender Steuerungsfähigkeit des Staates ein gewachsenes Bedürfnis nach strategischer Steuerung zeitigen. Die empirisch arbeitende Politikwissenschaft hat dieses Feld bislang brach gelassen, wohl schon weil seine Bearbeitung die Grenzen reiner Deskription überschritten hätte.
Die beiden Politologen Joachim Raschke und Ralf Tils haben dieses Feld nun vermessen und bearbeitet. Ihre systematische Grundlegung für eine Theorie der politischen Strategie besteht den naheliegenden Vergleich mit den Clausewitz’schen Ausführungen zum Militärischen, zumal sie an keiner Stelle der Versuchung erliegt, der höheren Komplexität der politischen Prozesse durch Problem- oder Perspektivenreduktion zu begegnen.
Ihr Baukasten des „Strategy-Making“ ist voller Fächer und Unterfächer, angefüllt mit allen Elementen, die in der Umwelt und bei den Akteuren gegeben sein müssen, um eine Strategie entstehen und zu einem Erfolg werden zu lassen. Was sich bei so manchem Politiker darauf reduziert, dass sie eben eine Strategie haben, blättern Raschke und Tils zu den komplexen Konzepten und Prozessen der Strategiefähigkeit, Strategiebildung und strategischen Steuerung auf.
Sie machen dabei Differenzen klar, etwa zwischen Führung und strategischer Steuerung, führen Typen von Strategen vor, etwa den monologischen Strategen Herbert Wehner, stellen die Bezüge zwischen Umweltbedingungen und Steuerungsmöglichkeiten dar, finden den strategischen Moment und ordnen ein, was eher einer Laune geschuldet war und hernach als überlegte Strategie ausgegeben wurde, etwa Schröders Neuwahlinitiative. Sie vermitteln solchermaßen unter der Hand einen Begriff von politischem Handwerk, der sich nicht in dem bekannten Bohren dicker Bretter erschöpft, sondern die Kategorie des Könnens zur Geltung bringt.
Strategie ist ein voraussetzungsvoller Prozess. Nicht jeder Politiker beherrscht ihn und nicht jeder Journalist weiß ihn zu würdigen. Dass davon das Bild in der Geschichte nur zum Teil abhängt, auch das machen die Autoren in mehreren Aufsätzen über das (nicht)strategische Vorgehen der SPD von 1945 bis heute klar. So leuchtet der Stern des Kanzlers Willy Brandt ungleich heller als der seines Nachfolgers, obgleich Helmut Schmidt eindeutig der größere Stratege von beiden war.
Dass die Lektüre dieser notwendigerweise kleinteiligen Grundlegung nie langweilt, liegt vor allem daran, dass sie erfahrungsgesättigt ist. Strategie spielt sich naturgemäß nur zum Teil öffentlich ab und ist von daher nicht so ohne weiteres der Beobachtung zugänglich. Joachim Raschke hat sich jahrelang auf Parteitagen und in den Parteien umgetan, beide Autoren haben mit einer Reihe ehemaliger und aktiver Spitzenpolitiker Interviews geführt, dieses Erfahrungswissen gibt dem Buch das Fleisch. Nach der Lektüre schaut man differenzierter, aber auch skeptischer auf den politischen Betrieb. Und man wünscht dem Buch schon aus demokratietheoretischen Erwägungen, dass es nicht nur in der SPD-Führungsakademie weite Verbreitung findet. DIETER RULFF
Joachim Raschke/Ralf Tils: „Politische Strategie. Eine Grundlegung“. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2007, 585 Seiten, 39,90 Euro
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