: Vom Sterben der Friedhöfe
BESTATTUNG Die letzte Ruhe wird heute gern im Urnengrab gesucht und nicht im Sarg. Das sorgt für Platz auf Berlins Friedhöfen – und die Frage, wie man damit umgehen soll
■ „Jede Leiche muss bestattet werden.“ So steht es in § 15 des Berliner Bestattungsgesetzes.
■ BerlinerInnen haben die Wahl zwischen Erdbestattung (Sarg) und Feuerbestattung (Urne). Eine Seebestattung findet auf See statt und ist deshalb innerhalb Berlins nicht möglich.
■ Ort der Bestattung ist immer ein öffentlicher Friedhof. Derzeit sind in Berlin 67 landeseigene (bezirkliche), 103 evangelische, 9 katholische, 3 jüdische und 2 islamische Friedhöfe in Betrieb.
■ Für eine klassische Urnenbestattung kalkuliert die Verbraucherinitiative Aeternitas e. V. rund 4.000 Euro, hinzu kommen in Berlin Friedhofsgebühren in Höhe von circa 2.000 Euro. Eine Bestattung im Sarg kostet das Doppelte.
■ Es geht auch billiger: Eine Friedwald-Bestattung bei Berlin gibt es all inclusive schon für 2.000 Euro.
VON CLAUDIUS PRÖSSER
Gibt es Orte, an denen Berlin romantischer verfällt? Hier bricht der Efeu durch die Giebel der Mausoleen, dort zehrt der Rost an schmiedeeisernen Zäunen. Verwitterte Grabsprüche warten auf ihre Entzifferung. Gleichzeitig regt sich auf dem Alten Luisenstädtischen Friedhof am Südstern schon die Natur: Es zwitschert und raschelt, die Knospen der Magnolie sind verdächtig prall. Menschen sind dagegen nur wenige zu sehen, wenn man aus Jürgen Quandts Büro schaut. Es liegt in einem backsteinernen Verwaltungsgebäude neben dem Eingang an der Bergmannstraße. Bei Quandts Arbeit geht es um den Tod von Menschen – und um das Sterben der Friedhöfe.
Der weißhaarige 70-Jährige mit Hornbrille und Dreitagebart führt die Geschäfte des Evangelischen Friedhofsverbands Berlin Stadtmitte: ein Zusammenschluss von Gemeinden mit über 40 Bestattungsplätzen zwischen Weißensee und Wedding, Neukölln und Mariendorf. Als früherer Gemeindepfarrer versteht Quandt sich aufs Theologische wie aufs Organisatorische – und das ist gut, denn zu organisieren gibt es eine Menge: das Bestatten und das Trauern, die Instandhaltung riesiger grüner Stadtflächen und vor allem die Finanzen, die das alles mehr schlecht als recht zusammenhalten.
„Hier an der Bergmannstraße liegen vier historische Friedhöfe“, erläutert Quandt mit seiner leisen Stimme, „und jeder hatte früher eine eigene Belegschaft, insgesamt rund 20 Mitarbeiter. Heute stemmen neun Angestellte die ganze Arbeit.“ Die jährlichen Kosten für die Unterhaltung des Gesamtgeländes betragen circa eine halbe Million Euro, das lässt sich aus den Bestattungsgebühren, den Mitteln aus Grabpflegeverträgen, aus Vermietungen und Kapitalerträgen gerade so decken. Für Investitionen fehlt es schon an Geld: „Der Verfall der historischen Grabmäler ist so kaum aufzuhalten.“
Mit den Finanzen kämpft aber nicht nur Quandts Verband – das Problem haben alle Träger. In erster Linie sind das Berlins evangelische Gemeinden und die Bezirke. Zusammen kommen sie auf 170 Friedhöfe, verteilt über die ganze Stadt. Ihre Besucher begegnen fast überall demselben Phänomen: Immer größere Lücken klaffen zwischen den Gräbern, statt Marmor und Stauden kahles Gras. Der Grund sind gravierende Veränderungen im Umgang mit dem Tod.
„In den letzten 30, 40 Jahren haben wir einen Niedergang der traditionellen Bestattungskultur erlebt“, sagt Jürgen Quandt und wird noch etwas leiser. „Heute wird in Berlin vor allem in Urnengräbern bestattet, ein großer Teil davon anonym.“ Die Kirche freue das nicht, sie glaube an die Einzigartigkeit des Menschen. „Aber würden wir es nicht erlauben, ginge uns die Hälfte der Bestattungen verloren.“
Die Statistik der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung bestätigt: 80 Prozent der Bestattungen in Berlin sind heute Urnenbestattungen – die Hälfte davon wiederum in „Urnengemeinschaftsanlagen“ (UGA). Das sind Flächen, auf denen nichts die Stelle markiert, wo die Überreste eines Toten liegen. Während eine normale Urnenbestattung noch rund ein Viertel der Fläche beansprucht, die ein Sarg notwendig macht, benötigt die Urne in einer UGA nur noch rund drei Prozent davon. Der Flächenbedarf schrumpft dramatisch.
Wie kommt es, dass der letzte Gang immer öfter einer in die Anonymität ist? Ein Grund liegt auf der Hand: Es ist viel billiger. Vor allem in Sachen Grabpflege, wo bei der Bestattung in Gemeinschaftsanlagen kaum Kosten anfallen. Für Menschen mit kleinen Einkommen ein wichtiges Argument. Und bei jenen, die für ihr Ende nicht vorgesorgt haben und deren Angehörigen die Kosten nicht übernehmen können, sorgen die Sozialämter dafür, dass kein Cent zu viel ausgegeben wird. „Sie suchen Wege, möglichst kostengünstig bestatten zu lassen“, weiß Jürgen Quandt, „und verstoßen dabei schon mal gegen den letzten Willen eines Verstorbenen, der vielleicht keine Urnenbeisetzung gewollt hat.“ Solche Sozialbestattungen und die „Ordnungsamtsbestattungen“ – wenn gar keine Hinterbliebenen aufzufinden sind – machten in Berlin rund 10 Prozent der Bestattungen aus.
Die Veränderungen der Friedhofskultur sind aber nicht nur eine Frage des Geldes. Klaus Neumann, Landschaftsarchitekt und Professor an der Weddinger Beuth Hochschule für Technik, hat in einem Forschungsprojekt den Wandel des urbanen Raums „Friedhof“ untersucht – und die gesellschaftlichen Ursachen. Er sieht sie in der wachsenden Mobilität und einem Trend zur Individualisierung.
Wenn Ortsgebundenheit nachlasse und viele ihrem Arbeitsplatz hinterherziehen müssten, habe das auch Auswirkungen auf Bestattungsformen, sagt Neumann – etwa weil nicht mehr sicher sei, dass sich die Nachkommen um ein Grab kümmern können. Gleichzeitig würden neue Beisetzungsformen attraktiv, die mit dem traditionellen Friedhof nur noch wenig zu tun haben, etwa die „Friedwälder“, von denen immer mehr eröffnen, auch im Berliner Umland. Sogar einen Trend zur Digitalisierung erkennt Neumann: „Es gibt schon Gräber mit QR-Codes, die auf eine Website mit der Geschichte des Verstorbenen führen.“ Erinnerung werde immer weniger mit physischen Orten verknüpft.
Der muslimische Faktor
Für die Friedhöfe in vielen Innenstadtbezirken gilt noch ein Faktor: Sie liegen heute in Quartieren mit einem hohen Anteil muslimischer Bevölkerung. Deren Verstorbene werden aber oft noch in die alte Heimat überführt oder auf einem der islamischen Friedhöfe bestattet. (siehe dazu das Interview auf Seite 45)
All das führt in der Summe zu riesigen Überhangflächen auf den Friedhöfen – und zu Kostenproblemen für deren Träger. Denn während die Summe der eingenommenen Gebühren sinkt, bleibt der Arbeitsaufwand weitestgehend gleich. Wege und Gebäude müssen instand gehalten werden, durch Baumpflege muss verhindert werden, dass jemandem ein Ast auf den Kopf fällt, die Lücken zwischen den Gräbern dürfen nicht unkontrolliert zuwuchern. Es ist wie mit einem Mietshaus, dessen Betriebskosten nicht im gleichen Maße sinken wie die Mieteinnahmen durch leer stehende Wohnungen.
Geschlossene Friedhöfe
Ortswechsel: Schöneberg, Eisackstraße. Der landeseigene Friedhof „Schöneberg I“ ist nicht leicht zu finden. Der etwas verwahrloste Eingang liegt in einem toten Winkel zwischen S-Bahn-Ring und Autobahn. Zur etliche Meter tiefer verlaufenden A100 fällt eine senkrechte Kante ab, und tatsächlich lagen früher auch dort Tote, wo jetzt die Autos aus dem Tunnel unterm Innsbrucker Platz rauschen. Der 1883 angelegte Friedhof war einst dreimal so groß wie heute. Dann wich der östliche Teil den Vorarbeiten für Hitlers „Germania“-Projekt. Tausende Gräber wurden umgebettet, heute befindet sich hier eine Kleingartenkolonie. Der Autobahnbau in den 70ern machte dem Mittelteil den Garaus. Auf dem kümmerlichen Rest befinden sich nur noch wenige Gräber, und es kommen auch keine mehr hinzu: Seit 2006 wird nicht mehr bestattet.
Vier Friedhöfe – ein weiterer am Schönberger Priesterweg, einer in Pankow und einer in Köpenick – sind seit 2006 geschlossen worden. Das geschah auf der Grundlage des Friedhofsentwicklungsplans (FEP), den der rot-rote Senat damals im Einvernehmen mit der evangelischen Landeskirche beschloss. Es ist der Versuch, dem Sterben der Friedhöfe aktiv zu begegnen, indem man nicht mehr benötigte Flächen abtrennt und umnutzt. Die Schließung kompletter Friedhöfe ist aber der Ausnahmefall.
Berlins Gräber sind über gut 1.000 Hektar Friedhofsfläche verstreut, 290 Hektar davon sollen laut Plan über kurz oder lang anders genutzt werden. Zum Vergleich: Der Große Tiergarten misst 210 Hektar. Bis zur tatsächlichen Umnutzung vergeht in jedem einzelnen Fall viel Zeit: Vom Moment der Schließung – sprich: der letzten Beisetzung – an müssen 20 Jahre vergehen, denn so lange hat jedes Grab Bestandsschutz. Wenn die Fläche dann nicht als Park oder Wald vorgesehen ist, sondern als Bauland, schlägt das Berliner Friedhofsgesetz noch mal 10 Jahre drauf: Erst nach dieser „Pietätsfrist“ darf der Boden bewegt werden.
Im November 2014 hat die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung einen Umsetzungsbericht für den Friedhofsentwicklungsplan vorgelegt. Demnach ist das Planwerk zu 70 Prozent verwirklicht: 90 Hektar wurden vollständig und 80 Hektar beschränkt geschlossen (hier können immer noch Angehörige „nachbestattet“ werden). 39 Hektar wurden entwidmet, gelten also gar nicht mehr als Friedhof. Letztere Flächen soll auf insgesamt rund 80 Hektar anwachsen. Während die Bezirke als kommunale Friedhofsträger schon fast 90 Prozent der geplanten Schließungen und Entwidmungen umgesetzt haben, hinken die evangelischen Gemeinden hinterher. Auch das liegt am Geld: Für die Pflege geschlossener Friedhöfe gebe es schließlich keine Mittel aus dem Landeshaushalt, argumentiert man, und es sei auch nicht Auftrag der Gemeinden, öffentliche Grünflächen zu unterhalten.
■ Berlins historische Friedhöfe beherbergen einen ungeheuren kulturellen Schatz, für ihre angemessene Pflege fehlt das Geld jedoch an allen Enden. Die schönsten historischen Friedhöfe liegen in den Bezirken Mitte und Friedrichshain-Kreuzberg.
■ Die 1989 gegründete Stiftung Historische Kirchhöfe und Friedhöfe in Berlin-Brandenburg (stiftung-historische-friedhoefe.de) versucht, die Gartendenkmäler durch das Einwerben von Fördermitteln sowie die Vergabe von Patenschaften zu erhalten: Ein Grabpate beteiligt sich finanziell am Erhalt eines historischen Grabmals und erwirbt dadurch ein Nutzungsrecht auf derselben Fläche.
■ Ein sehr schöner und mit über 300 Seiten informativer Bildband ist „Gartendenkmale in Berlin: Friedhöfe“, herausgegeben vom Landesdenkmalamt Berlin.
Richtig, sagt Beate Profé, die in der Senatsverwaltung das zuständige Referat „Freiraumplanung und Stadtgrün“ leitet, „aber genau dafür wurde ja ein finanzieller Ausgleich geschaffen: Indem der Friedhofsentwicklungsplan in Ausnahmefällen die wirtschaftliche Verwertung von Teilflächen ermöglicht, kann der Unterhalt der Grünflächen gegenfinanziert werden.“ In Zeiten, in denen Flächen für den Wohnungsbau Gold wert sind, eine realistische Annahme.
Für diesen finanziellen Ausgleich sorgt auch der 2009 gegründete Friedhofsverband Stadtmitte. Laut Geschäftsführer Quandt werden die Einnahmen aus Grundstücks-Deals auch dringend gebraucht. Dass das Immobiliengeschäft seine Tücken hat, zeigte aber das Beispiel des Friedhofs St. Marien/St. Nikolai II an der Heinrich-Roller-Straße in Prenzlauer Berg. Hier konnte und wollte die Kirche einen bereits geschlossenen Abschnitt entwidmen, um ihn an einen Bauinvestor zu verkaufen. Nach Protesten der Anwohner, die die Grünfläche erhalten wollten, verkaufte der Verband einen Teil dem Bezirk. Heute spielen hier Kinder im Leise-Park zwischen alten Grabsteinen.
Umnutzung kann aber auch in kleinerem Maßstab stattfinden und einträglich sein – etwa durch Vermietungen an Gastronomie. Im Eingangsbereich des Friedrichswerderschen Friedhofs an der Bergmannstraße, nicht weit von Jürgen Quandts Büro, hat das Café Strauss eine Heimat in der ehemaligen Aufbahrungshalle gefunden. Es ist nach dem Café Finovo auf dem Alten St.-Matthäi-Kirchhof schon das zweite „Friedhofscafé“ in Berlin, und es wird keineswegs nur von Trauergästen genutzt.
Neues Leben um die Gräber
„Vom Ort der Toten zum Ort der Lebenden“, nennt Beuth-Professor Neumann diesen Wandel. Er hat geplante und bereits umgesetzte Beispiele aus Deutschland und dem europäischen Ausland zusammengetragen: „Das können Schutzgebiete für bedrohte Arten sein, aber auch Anbauflächen für Obstgehölze, Energiepflanzen oder Weihnachtsbäume.“ Neumann hält historische Friedhöfe auch als kulturelle Veranstaltungsorte für geeignet. Als Beispiel dienen ihm die Kulturnächte auf dem riesigen Südwestkirchhof in Stahnsdorf.
So optimistisch das klingt: An Jürgen Quandts Sorge um den Verfall von Denkmälern und Friedhofskultur ändert es erst einmal nicht viel. Aber ein Pfarrer verliert nicht die Hoffnung. Einerseits, so Quandt, kümmere sich die Stiftung Historische Kirchhöfe und Friedhöfe um die Rettung der bröckelnden Mausoleen – durch die Einwerbung von Fördermitteln oder die Vergabe von „Grabpatenschaften“. Andererseits seien Tendenzen gegen den Trend zu erkennen, keine Spur zu hinterlassen: „Einzelne Gruppen setzen sich intensiver mit dem Tod auseinander, das schlägt sich auf dem Friedhof nieder.“ Grabfelder für Neu- und Ungeborene seien ein Beispiel, auch solche von Menschen, die an Aids gestorben sind.
Eine Kompromisslösung könnten die „halb anonymen“ Gemeinschaftsanlagen sein, die Quandts Verband plant: gärtnerisch gestaltete Flächen, in denen nicht mehr Hunderte Tote beigesetzt werden, sondern vielleicht nur noch 50, mit einer Stele, auf der die Namen aller Beigesetzten stehen. Es wäre ein Anhaltspunkt für die Erinnerung – auch wenn Quandt die Macht des Vergessens bewusst ist: „Dass kein Grab ewig ist, wissen wir.“
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