: Wenn der Algenvorhang blubbert
ZUKUNFTSMUSIK Das viel beachtete Algenhaus im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg bewährt sich, ist aber noch eine weltweite Besonderheit, die auch ihre Wirtschaftlichkeit weiter unter Beweis stellen muss. Immerhin war es als eines der ersten IBA-Häuser von vornherein gefragt
■ Algen sind grüne Alleskönner. Zahlreiche Pilotprojekte erforschen ihre energiereichen Inhaltsstoffe und versuchen sie zu nutzen. Aus einigen Arten kann Öl gewonnen werden, andere produzieren Biogas und Wasserstoff oder werden als Nahrungsergänzungs- und als Verdickungsmittel für Kosmetikprodukte verwendet.
■ Das Algenhaus in Hamburg-Wilhelmsburg ist ein sogenanntes Smart Material House, dessen Materialien die Energie der Umwelt nutzen und sich im Unterschied zu herkömmlichen Baustoffen nicht statisch, sondern dynamisch verhalten. Dabei werden an der Glasfassade Mikroalgen gezüchtet, die durch Photosynthese und Solarthermie, Biomasse und Wärme produzieren.
■ Zur Internationalen Bauausstellung 2013 in Wilhelmsburg wurden neben dem Algenhaus drei weitere Smart Material Häuser aus verschiedenen Materialien errichtet, die auf Umweltbedingungen reagieren und sich diesen anpassen.
VON DARIJANA HAHN
Auf zwei Seiten ist es giftgrün, interessant und irritierend. Da steht in zwei riesigen Sprechblasen einmal die Frage „Photosynthese?“, um in der anderen mit einem schlichten „Cool!“ beantwortet zu werden. Auf seinen beiden anderen Seiten, seiner Südostfassade, ist das Haus mit dem merkwürdigen Namen BIQ auch grün und in gewisser Weise ebenso sprechend: Denn hier zieren nicht nur Algen die Fassaden. Nein, sie wachsen vielmehr und übernehmen dabei regelrecht eine Funktion, nicht zuletzt die in fragender Sprechblase erwähnter: Sie betreiben Photosynthese.
Indem sie dabei Kohlendioxid binden, produzieren sie sowohl Wärme als auch wichtige Biomasse, aus der wiederum Strom erzeugt wird. Um dies so gut wie möglich zu können, sind die Algen – namens Scenedemus, am Beginn nur wenige Mikrometer klein – in einer Suspensionslösung in insgesamt 129 taschenbuchdicken, fast drei Meter langen und 70 Zentimeter breiten Glasquadern, sogenannten Bioreaktoren, untergebracht. Diese sind auf der Fassadenfläche von 200 Quadratmetern so miteinander verschraubt, dass die Flüssigkeit innerhalb der Fläche zirkulieren kann, unterstützt durch ständige Luftzufuhr, sodass die Fassade ein immerwährendes Blubbern von sich gibt, bis es bei Einbruch der Dunkelheit – wenn Photosynthese nicht mehr möglich ist – abschaltet.
Zurzeit allerdings ist es auch tagsüber still. Denn die Algen sind „vorübergehend ausgezogen“, wie der Betreiber dieser pionierhaften Anlage, Martin Kerner, sagt und für den Laien allgemein genug erklärt: „Wir müssen da was ausbauen und was Neues einbauen.“ Martin Kerner ist habilitierter Biologe und ausgewiesener Algenexperte. Mit seiner im Hamburger Stadtteil Bahrenfeld ansässigen Firma betreibt er unter anderem seit 2008 in Kooperation mit der Eon-Tochter Eon Hanse eine Pilotanlage zur großtechnischen Kultivierung von Mikroalgen in Hamburg-Reitbrook.
Als ihn 2010 der Anruf eines Berliner Ingenieurbüros erreichte, ob er sich nicht vorstellen könnte, Algen auch an einer Fassade zu kultivieren, bat er um gute Argumente: Er wollte wissen, warum er sich auf ein solches Experiment einlassen sollte. Dass eine Algenfassade isoliere, hübsch aussähe und Sinn mache, kann Kerner mittlerweile selbst bestätigen. Vor allem ist er sehr stolz darauf, die „Machbarkeit“ eines solchen Unterfangens zu demonstrieren und nachweisen zu können, die im Vorfeld errechneten Erträge tatsächlich herauszubekommen. Drei Kilo Algenmasse sollten am Tag geerntet werden, aus der zu Biogas vergoren, im Jahr 4.500 Kilowattstunden Energie gewonnen werden kann. „80 Prozent dieser Leistung haben wir erreicht“, sagt Kerner, um darauf hinzuweisen, dass sie zurzeit dabei sind, das System durch eine hauseigene Abwasserreinigung zu erweitern.
Dabei soll das Abwasser in einer Biogasanlage gesammelt werden. Mit dem dadurch produzierten Methan werden wiederum die Algen gefüttert. Damit würde, so Kerner, „ein ganz anderes Kapitel in Sachen Wirtschaftlichkeit aufgeschlagen“. Denn mit der Wirtschaftlichkeit, daraus macht Kerner keinen Hehl, hapert es im Moment noch. „Das ist hier alles mundgeblasen und handgemalt“, umschreibt Kerner die sehr kostenaufwendige Steuerungstechnik, die erst entwickelt werden musste. Dennoch ist er überzeugt, dass die Investition in die Anlage, 850.000 Euro, aus Exzellenzmitteln der Internationalen Bauausstellung 2013 (IBA) finanziert, sich längst nicht nur amortisiert, sondern um das Dreifache verzinst habe. Dadurch dass sich Folgeforschungsprojekte mit entsprechenden Geldern angeschlossen hätten.
So, wie auch das sogenannte Algenhaus eines der ersten Häuser in der im Rahmen der IBA 2013 neu bebauten Wilhelmsburger Mitte war, das vermietet werden konnte. 15 Parteien gibt es in dem grünen, von der Baufirma Otto Wulff errichteten Kubus, mit Wohnflächen zwischen 50 und 120 Quadratmetern. Was nun die Mieter dazu bewogen hat, das Algenhaus zu beziehen, und wie es sich hinter einem blubbernden, grünen Algenvorhang lebt, darüber lässt sich nur spekulieren.
Doch nach Aussage von Kerner handelt es sich um Mieter, die sich ganz bewusst auf ein technisches Experiment eingelassen haben. Und die sich schließlich mit den Algen anfreundeten. „Wenn ich auf der Terrasse sitze, dann plätschert es, es bewegt sich was, es ist einfach lebendig“, fasst Kerner die Wohnerlebnisse der Mieter zusammen. Noch ist es nicht so, dass Kerners Telefon vor lauter Anfragen nach Algenfassaden heiß laufen würde. Umso mehr ist Kerner aber mit jenen Forschungsprojekten beschäftigt, die sich im Anschluss an das Algenhaus ergeben haben. Sodass der offizielle Name des Algenhauses, BIQ – Abkürzung für „Bio-Intelligenz-Quotient“ und eigentlich nur die „gut aussehende“ Kreation des Graphikers – Programm ist und immer mehr mit konkreten Inhalten gefüllt wird.
Jetzt schon hat das Algenhaus, wie das der auf Biotechnologie spezialisierte Unternehmensberater Timo Enderle aus Stuttgart ausdrückt, einen „sehr wichtigen Schritt für die Algen-Forschung in Richtung Öffentlichkeit“ geleistet.
Mehr Infos unter www.biq-wilhelmsburg.de
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