: Anker in der neuen Heimat
MIGRATION Mit den „European Chinese News“ hat der Bamberger Imbisswirt You Xie Landsleuten Deutschland erklärt. Doch das Monatsmagazin verkaufte sich zuletzt kaum noch. Nach zwölf Jahren erschien kürzlich die letzte Ausgabe
AUS BAMBERG TILL MAYER
Die Zahl 9, „Jiu“, steht im Chinesischen für „ewig“. „Was für ein Glücksfall, dass ich meine Zeitung am 9. 9. 1999 gründen kann“, hat sich You Xie gedacht, als er damals das erste Exemplar der European Chinese News in den Händen hielt. Doch die Ewigkeit fiel kürzer aus als gedacht. Vor wenigen Tagen wurde das letzte Exemplar von European Chinese News in der Druckerei des Obermain Tagblatts in Lichtenfels gedruckt. Als er den vertrauten roten Rand um die Titelseite leuchten sah, wurde es Herausgeber You Xie schwer ums Herz. Auf dem Cover stützt sich die kleine Tochter der Chefredakteurin Qian Zhang auf alle 121 Ausgaben der China-Zeitschrift.
Nachwuchs hätte auch das monatlich erscheinende Magazin nötig gehabt. „Die Jugend liest eben immer mehr im Internet. Meine Blogs, die sind sehr beliebt. Doch die 2,50 Euro für ein Heft, die wollen viele nicht mehr bezahlen.“ Auch der Anzeigenumsatz sank. So endet nach gut zwölf Jahren eine ungewöhnliche Zeitschriftengeschichte. Die ein ungewöhnlicher Herausgeber geschrieben hat.
1988 kam You Xie nach endloser Zugfahrt durch China, die ehemalige Sowjetunion, Polen und die DDR in Bamberg an. Um dort als Germanistikstudent eine neue Heimat zu finden.
Rückkehr ausgeschlossen
1989 wurde aus dem Studenten You Xie ein Dissident. In der Volksrepublik China walzten Panzer die Demokratiebewegung nieder. You Xie schrieb mit anderen chinesischen Studenten dagegen an, seitdem bleibt ihm die Rückkehr nach Rotchina verwehrt. Manchmal betrachtet You Xie ungläubig die Bilder aus dem heutigen China, die neue sterile Hochglanzwelt in den Boomzentren. Nur die Demokratie, sie hat nicht gesiegt. „Dass sie heute so wenige Chinesen fordern, das macht mich traurig, sehr traurig sogar“, sagt der 53-Jährige.
Jahr für Jahr gibt er mit seiner Frau in seinem Asiaimbiss einen Empfang für die chinesischen Studenten in Bamberg. Und wundert sich, wie anders sie doch sind, anders als er damals zu Studienbeginn in Deutschland. „Oft sind sie Einzelkinder von wohlhabenden Eltern. Die nicht wie ich damals jobben müssen, um ihr Studium zu finanzieren. China, das ist für sie die Nummer 1. Infrage gestellt wird das System nur wenig. Was zählt, sind wirtschaftliche Erfolge, nicht Menschenrechte.“ Die Prioritäten haben sich seit seiner Jugend verkehrt.
Mit den European Chinese News wollte You Xie erreichen, dass Chinesen in Europa und vor allem in Deutschland einen Weg in die neue Heimat finden. Schwägerin Qian Zhang half von Anfang an als Chefredakteurin mit, Ehefrau Shenhua Xie-Zhang als Redakteurin. Befreundete Journalisten lieferten immer wieder Texte als Gastautoren. Oft saß You Xie bis spät in die Nacht am Computer über seinem Imbiss, layoutete und schrieb Artikel, nachdem er unten den Herd abgedreht hatte. Der Imbiss sicherte den Lebensunterhalt, die Zeitschrift war Herzenssache, und der Geist dahinter ist es auch nach der Einstellung noch.
Umfangreich fiel stets der Ratgeberteil aus. You Xies Ziel: Landsleuten mit geringen oder nicht vorhandenen Sprachkenntnissen deutsches Recht und Gesetz zu erklären. Dafür hat er durchaus skurrile Rechtsstreitigkeiten aufgegriffen. Wie die sittenwidrige Kündigung eines deutschen Ingenieurs, der nach der Eheschließung mit einer Chinesin plötzlich der Industriespionage verdächtigt wurde. In einem anderen Text diskutiert ein Deutscher mit seinem chinesischen Nachbarn über die Kulturen der beiden Länder, über Unterschiede, Gemeinsamkeiten und grünen Tee als Brücke über Kontinente. In seiner Lieblingsausgabe 115 erklärt You Xie mit den Theorien des Rechtsphilosophen und sozialdemokratischen Reichsjustizministers in der Weimarer Republik, Gustav Radbruch (1878–1949), warum die Verhaftung von Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo durch Chinas Staatsmacht Unrecht ist.
Schon jetzt bewegt die Leser das 100-jährige Jubiläum der Volksrepublik China im kommenden Jahr und das komplizierte Verhältnis zum Nachbarn Taiwan sowieso. Ebenso wie die blutigen Jahrzehnte des Bürgerkriegs in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und die japanische Besatzung, die China ins Elend stürzten. Ein Land zerriss, Wunden brachen auf, die, wie die Taiwan-Problematik zeigt, bis heute nicht verheilt sind.
Zerrissenheit – You Xie kennt das Gefühl aus eigener Erfahrung. Seit 2010 hat er nun einen deutschen Pass. Doch die alte Heimat, sie fehlt. Heimweh ist auch aus dem Artikel „Der Preis, ein Chinese zu sein“ zu lesen, der 1994 mit dem renommierten Journalistenpreis der taiwanesischen Tageszeitung Central Daily News ausgezeichnet wurde.
Neue Heimat gefunden
Dennoch ist es You Xie gelungen, in einer völlig fremden Welt eine neue Heimat zu finden. Bamberg: ein über tausend Jahre alter Dom, durch und durch katholisch geprägt, enge Altstadtgassen, biergemütliche Beschaulichkeit und eine quirlige Universität. Dass You Xie als junger Mann seinen Studienplatz in Bamberg ergatterte, war Zufall. Dass die Stadt seine Wahlheimat wurde, ist es nicht. „Bamberg mag in vielem konservativ sein. Doch die Menschen hier sind weltoffen und freundlich zu Fremden. Beides ist nötig, wenn man eine neue Heimat finden will“, sagt You Xie, der nicht selten eine Bamberger Stadtansicht als Schmuckbild in den European Chinese News gedruckt hat.
Sein Imbissstand liegt nur einen Steinwurf vom historischen Rathaus entfernt mit Blick auf Altstadt und Regnitz. Viele Studenten sind seine Kunden. „Ente kross beim Diplom-Chinesen“, sagen sie augenzwinkernd, aber voller Respekt. Dass in Bamberg eine China-Zeitschrift erscheint, das macht weltoffene Lokalpatrioten stolz. You Xie ist längst nicht mehr wegzudenken. Der 53-Jährige hat ausgesprochen erfolgreich seine eigene Integrationsgeschichte geschrieben.
Chinesenleben gespiegelt
Anderen zu ermöglichen, was er selbst bereits erreicht hat, das war der Antrieb für You Xie, die European Chinese News herauszugeben. „Viele Chinesen sind als Gastronomen und Geschäftsleute in Deutschland erfolgreich, aber setzen sich einfach nicht genug mit der Sprache und der Kultur auseinander.“ Das wolle er ändern, erklärt er, aber auch einen Spiegel chinesischen Lebens in Europa bieten. 18.000 Leser erreichte er zu Hochzeiten – die Exemplare gingen per Post an Abonnenten, wurden aber vor allem über Bahnhofskioske vertrieben. Zuletzt waren es viel weniger. Zu den genauen Zahlen schweigt You Xie.
Immerhin gibt es noch ein zweites Zeitschriftenprojekt, für das er weiter verantwortlich zeichnet. Die Europaausgabe der christlichen Zeitschrift Overseas Campus, die ebenfalls in Chinesisch erscheint. Für Katholik You Xie ein wichtiges Leitmedium für junge chinesische Christen. Auch diese Zeitschrift wird seit 2006 im benachbarten Lichtenfels gedruckt.
Ein bisschen hofft You Xie, dass seine European Chinese News vielleicht eines Tages doch wiederaufersteht. „China nimmt einen immer wichtigeren Platz in der Weltwirtschaft ein. Da steigt das Interesse auch an Kultur und Ereignissen aus China und dem chinesischem Leben in Deutschland und Europa. Immer mehr Deutsche sind schon einmal nach China gereist. Das könnte durchaus neue Leser bringen“, glaubt You Xie. Die neue European Chinese News müsste dann aber mindestens zweisprachig erscheinen. Vielleicht hat die Zahl 9 ja doch noch mehr Kraft als heute gedacht.
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