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Als die Mächtigen die Städte verließen

BILANZ Vor zehn Jahren wurde Genua zum Zentrum der Globalisierungskritik. Dann denzentralisierte sich der Protest

Genua hatte gezeigt, auf welche Ablehnung die Politik der größten Wirtschaftsnationen der Welt stößt

VON SEBASTIAN HEISER

Der G-8-Gipfel von Genua vor zehn Jahren war der Wendepunkt: Keiner der folgenden Gipfel war jemals wieder so wie vorher. Und auch der globalisierungskritische Protest hat sich durch das verändert, was in Genua und als Reaktion auf Genua geschah: Er ist nicht mehr auf ein politisches Großereignis pro Jahr fixiert, sondern auf viele kleine Ereignisse an vielen Orten.

Das im Laika-Verlag erschienene Buch „Die blutigen Tage von Genua“ schaut auf die Proteste in der norditalienischen Stadt zurück. Mehr als 300.000 Demonstranten waren damals gekommen, um gegen das Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der größten Wirtschaftsnationen der Erde zu demonstrieren. In ganz Europa hatten linke Gruppen monatelang auf diesen Termin hingearbeitet: Plakate geklebt, Seminare über die Globalisierung und ihre Folgen angeboten, Fahrgelegenheiten organisiert. Genua war der Höhepunkt des Jahres für die gesamte linke Szene.

Auch die italienische Polizei hatte sich gewappnet. Die Stadt wurde in mehrere Zonen eingeteilt. Der gesamte Stadtkern und der Hafen – die rote Zone – war vollständig mit meterhohen Zäunen abgesperrt. In die noch größere gelbe Zone gab es nur Zutritt mit Sonderausweis. Bahnhof und Flughafen wurden geschlossen, auf den Autobahnen gab es Straßensperren und Kontrollen.

Überraschende Polizisten

In dem Buch schildern Aktivistinnen das ungewöhnliche Vorgehen der italienischen Polizei. Eine sagt: „Normalerweise kommt die Polizei, man wird aufmerksam, es wird hin und her geschubst, einer haut mal mit dem Knüppel, die Leute schreien, streiten. In Genua hingegen ist die Polizei einfach auf die Leute zugerast, und alle versuchten, in Panik zu fliehen. Es fehlte an den normalsten Verhaltensregeln, wie sie bei Demos üblich sind. Die Polizei griff an, und alles ging drunter und drüber.“

Zu besonders krasser Polizeigewalt kam es in einer zur Untersuchungshaftanstalt umfunktionierten Kaserne: Festgenommene Demonstranten werden geschlagen, Piercings werden ausgerissen, Frauen wird Vergewaltigung angedroht. Auch in der Diaz-Schule kommt es zu Ausschreitungen der Polizei, die bei einem Sturm auf ein Übernachtungslager der Demonstranten Dutzende Menschen krankenhausreif prügelt. Überschattet wird der Gipfel vom Tod des italienischen Demonstranten Carlo Giuliani, der Polizisten in einem stecken gebliebenen Polizeiauto mit einem Feuerlöscher attackierte und von ihnen erschossen wurde.

Genua hatte gezeigt, auf welche Ablehnung die Politik der größten Wirtschaftsnationen der Welt stößt. Und die globalisierungskritische Bewegung hatte ihr europaweites Mobilisierungspotenzial unter Beweis gestellt. Der Gipfel war unter solchen Umständen nicht mehr zu sichern.

Die Regierenden mussten sich etwas einfallen lassen – und sie entschieden sich zu fliehen. Die G-8-Gipfel fanden fortan nicht mehr in Großstädten statt, sondern möglichst weit draußen in der Provinz, wo sich der Veranstaltungsort mit weniger Aufwand vor der Bevölkerung abschotten ließ.

Ein Treffen der Staats- und Regierungschefs in der Kölner Innenstadt mit Fototermin vor dem Dom – wie im Jahr 1999 – war nun undenkbar. Die Gipfeltreffen wurden an Orte verlegt, die bis dahin kaum jemand kannte und die sich über ihre plötzliche weltweite Berühmtheit freuten: Kananaskis (400 Einwohner), Évian-les-Bains (8.000 Einwohner) oder Toyako (10.000 Einwohner). Um Heiligendamm und seine 300 Einwohner wurde sicherheitshalber noch ein zwölf Kilometer langer Sicherheitszaun errichtet. Am ehrlichsten wäre es gewesen, den Gipfel gleich auf einem Flugzeugträger abzuhalten. Nur das autokratische Russland konnte es sich erlauben, in die Millionenstadt St. Petersburg einzuladen – das Risiko, dort in einem Gefängnis zu landen, wollten westliche Protestierer lieber nicht eingehen.

Der britische Premierminister Tony Blair schaffte es mit anderen Mitteln, die Protestbewegung im Jahr 2005 gegen das Gipfeltreffen in Gleneagles vergleichsweise ruhig zu halten: Er spaltete sie, indem er die Forderungen nach Schuldenerlass für Dritte-Welt-Länder und einer höheren Entwicklungshilfe übernahm. Dafür feierten ihn viele Nichtregierungsorganisationen, was der radikalere Teil der Bewegung ihnen wiederum vorwarf.

Deauville? Nie gehört!

Die Reaktionen der Politik auf den Protest haben den Protest verändert. Er wurde wieder dezentraler – und zwar sowohl auf den Ort als auch auf den Termin bezogen. Es gibt heute nicht mehr den einen Termin, auf den hin monatelang in ganz Europa mobilisiert wird. In diesem Jahr fand der G-8-Gipfel übrigens im französischen Deauville statt – hat irgendjemand Plakate mit dem Aufruf gesehen, dort hinzufahren?

Stattdessen boomt jetzt das Occupy-Konzept, also das komplette Gegenmodell zu den alten Gipfel-Zeiten. Man fährt nicht mehr einmal im Jahr quer über den Kontinent, um dort ein paar Tage zu demonstrieren. Stattdessen besetzt man einen Platz in der eigenen Stadt, und zwar möglichst dauerhaft.

Die Regierenden fühlen sich bereits wieder in Sicherheit, was den G-8-Gipfel angeht. Im nächsten Jahr ist Barack Obama der Gastgeber – und er lädt in die Millionenstadt Chicago.

Willi Baer, Karl-Heinz Dellwo (Hg.): „Die blutigen Tage von Genua“. Laika Verlag, 200 Seiten, inklusive zwei DVDs mit Filmmaterial, 24,90 Euro

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