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„Unschuldsvermutung ist ein hohes Gut“

KORRUPTION Michael Braun im Interview über nächtliche Arbeitszeiten von Spitzenpolitikern, die Gelassenheit angesichts von Machenschaften der Mafia und italienische Verhältnisse in Berlin

Michael Braun

■ Der 54-jährige Journalist lebt seit 1996 in Italien und arbeitet seit 2000 als Korrespondent für die taz. Im Berliner Senat saß er nie. Mit Senator Michael Braun ist er nicht verwandt und nicht verschwägert.

taz: Herr Braun, Sie haben durch Ihre Arbeit viel Erfahrung mit korrupten Politikern. Wie bewerten Sie den aktuellen Fall?

Michael Braun: Ich bin der Auffassung, man sollte die Sache wirklich gelassen sehen. In Deutschland schlägt die Aufregung bei solchen Sachen immer schnell hoch. Aber angesichts der Tatsache, dass Politiker ja auch Geld verdienen und einem ganz normalen Beruf nachgehen müssen, muss man Nachsicht walten lassen.

Es ist also normal, dass Notare, die auch Politiker sind, einen Schwerpunkt ihrer Arbeit auf die Nachtstunden legen und zweifelhafte Verträge beurkunden?

Ich empfehle da einen Blick nach Italien. Dort gab es dramatische Fälle, in denen Staatsanwaltschaften wegen Korruptionsverdacht oder des Verdachts der Verwicklung in die Mafia beantragten, diesen oder jenen Abgeordneten zu verhaften. Gott sei Dank ist das italienische Parlament sehr darauf bedacht, Politiker vor solchen Nachstellungen zu schützen. In Italien fragt niemand, wer wann welchen Tätigkeiten nachgeht.

Sehen Sie Parallelen zum ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi und seinen Machenschaften?

Nun, Berlusconi gehört auch der Europäischen Volkspartei an, der Schwesterpartei der CDU, es gibt jahrelange Kontakte auf Parteiebene. Und bei Berlusconi fand es niemand skandalös, dass er bis in die Nacht arbeitete und beim Aufbau seines Firmenimperiums notgedrungen mit zweifelhaften Gestalten in Kontakt kommen musste.

Wir haben also bald italienische Verhältnisse in Berlin?

Ob das bald ist, ist die Frage.

Jetzt schon?

Berlin weist seit Jahrzehnten große Parallelen mit Italien auf – gerade im Immobiliensektor. Ich will mich darüber nicht aufregen, wir sollten die Dinge so anschauen, wie sie sich darstellen.

Handelt es sich also nur um eine Kampagne der Medien, die hier gefahren wird?

Ich denke, da ist etwas dran. Medien werfen sich ja immer auf vermeintlich skandalöse Geschichten.

Was kann ein Senator da tun?

Er sollte sich durchaus ein Beispiel an italienischen Politikern nehmen. Ein früherer Staatssekretär der Berlusconi-Regierung denkt gar nicht daran, als Parteichef der Region Campanien zurückzutreten oder sein Parlamentsmandat zurückzugeben. Auch wenn ihm vorgeworfen wird, er sei der Gewährsmann der campanischen Mafia Camorra in Rom.

Also kein Rücktritt?

Nein, die Unschuldsvermutung ist ein hohes Gut. Politiker sollten ihr Amt nicht aufgeben, solange ihnen nicht haarklein nachgewiesen wurde, dass sie das Gesetz übertreten haben.

INTERVIEW: SVENJA BERGT

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