VERLOREN GEGANGENE DOMBEKANNTSCHAFTEN: „Was machst du denn hier?“
Draußen vor dem Kiosk auf der Feldstraße trinken die Dombeschicker immer. Das weiß ich von Sven K., dem Kettenkarussellbremser. Einmal hab ich mich auch mal nach Svens Feierabend zusammen mit ihm und einer Freundin an den runden Plastiktisch vorm Kioskfenster gestellt; vom damaligen Dosenbier in meiner Hand wünschte ich mir inbrünstig, dass es nie, aber auch NIE von denjenigen angefasst worden war, die sonst an dem Plastiktisch standen und tranken, wenn nicht gerade Dom war, das erinnere ich noch. Die Schausteller standen versprenkelt an Mauern gelehnt, stoben ihre Zigaretten in Blumenkästen aus, und erklärten meiner Freundin und mir das ungeschriebene Gesetz vom Dom: nie aber auch NIE ’ne Braut anfassen, wenn sie es nicht auch will; nie aber auch NIE jemanden mit aufs Zimmer nehmen, die Chefs sehen es nämlich nicht gern, wenn ein Außenstehender die Wohnunterkünfte der Angestellten näher in Augenschein nimmt; bei Razzien nicht petzen.
Sven K. hab ich von meiner Facebookfreundesliste gelöscht, nachdem mir die Witze an seiner Wand zu anstrengend wurden. Das Letzte, was ich von ihm weiß, ist, dass er dabei war, seinen Führerschein zu machen, und dass seine Mutter gestorben war. Beim Dom war er da nicht mehr.
Deshalb guckte ich immer unauffällig, wenn Dom war, nach dem Feierabend am Kiosk nach Beschickern. An Sommerabenden fuhr ich etwas langsamer auf dem Fahrrad am Kiosk vorbei; doch auf diese Art und Weise lehnen nur Losverkäufer und Geisterbahngehilfen an Mauern, es roch ein wenig nach Asphalt, und nach Zuckerwatte.
„Hej, Rebecca“, hörte ich plötzlich.
Ich war erstaunt. Jörg hatte ich zuletzt fünf Jahre zuvor gesehen, als er aus dem Karoviertel wegsaniert wurde, Ersatzwohnung im Falkenried, da mochte er es nicht, war immer noch mal im Karoviertel, um zu trinken.
Sowohl betrunken als auch unbetrunken hat Jörg einen Silberblick, mit dem er dich anguckt, als wärest du sehr unwahrscheinlich. Dabei ist er der Unwahrscheinliche. Seine Beine sind zu dünn für seinen ohnehin dünnen Körper, er ist zu jung für seine alten Trinkgenossen. Aber zu alt für junge Trinkgenossen. Er lispelt, als hätte sich sein Silberblick auf seine Zunge übertragen.
Und er hat immer Jobs, das gibt’s nicht.
Zuletzt fuhr er nachts Medizin nach Dänemark. Im Kombi gegen Bezahlung als Kurier. Bis ihm wegen Alkohol am Steuer der Führerschein entzogen wurde.
„Hej, Jörg! Was machst du denn hier?“
Es war warm und eine laue Sommernacht, so wie sie es nur auf der Feldstraße sein kann. „Ich arbeite jetzt beim Dom, ne?“ – „Und was ist mit Falkenried?“, fragte ich. Nee, gekündigt. Er ist Schmalzgebäckaushilfearbeiter. Und mit den Maiskolben und sauren Gurken beim anderen Stand von seinem Chef hilft er auch.
„Und wo wohnst du?“ – „In einem Campingwagen auf dem Hof von meinem Chef in der Lüneburger Heide“, sagte er. „Hab noch nie in meinem Leben so wenig Geld verdient und so wenig ausgegeben.“ Wenn ich’s recht erinnere, bekam er 30 Euro pro Tag, plus Kost und Logis.
Beim Dom ist er inzwischen nicht mehr.
Fragen kann ich ihn nicht. Vor ein paar Monaten rief mich Jörg mal an. Ich war sehr überrascht. Wollte nur mal seine Kontakte im Telefon durchforsten, welche Nummern noch so stimmten und welche nicht. Meine stimmte noch, obwohl ich inzwischen in Dänemark lebte. Als ich ihn jetzt wegen dieses Artikels anrufen wollte, stimmte seine nicht mehr. Vielleicht hat er mir neulich auch bei der Gelegenheit seine neue Nummer geben. Wieso kann ich mich immer nur so schlecht erinnern? Jörg ist jetzt weg. Und wo soll so einer wie Jörg bloß hin? Vielleicht hier, beim Tivoli in Kopenhagen. Die haben hier bestimmt auch eine Gewerkschaft für Jahrmärkte. REBECCA CLARE SANGER
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