: Funkelnde Versuchung
Bei Harrods trifft die Konsumavantgarde auf Pop. Ein Gang durch das Londoner Kaufhaus
AUS LONDON SUSANNE LANG
Hinter den Scheiben glitzert der Schnee. Neonlicht fällt auf die Mikrokügelchen. Jedes einzelne hat seinen perfekten Platz gefunden, auf kleineren Verwehungen, auf den mit Geschenkpapier umwickelten Schachteln, auf den Wimpern, den Wangen und dem Haar der Dame, um die sich in diesem Wintermärchenschaufenster alles drapiert hat. Sieh mich an, sagt ihr blasses Gesicht. Komm näher. Noch etwas näher. Noch ein bisschen – bis die Nase der Angelockten an die Scheibe prallt. Und der Schnee nur noch wie Granulat aus Kunststoff aussieht. Und der glitzernde Haarturm auf dem Kopf der Schaufensterdame ungefähr so, als hätte Marge Simpson den Winterweihnachtsmärchenlook gewählt. Silber-weiß statt blau.
London. Knightsbridge. Brompton Road. Ein Gebäude, sieben Stockwerke, über- und unterirdisch. Elf Eingänge, an vier Straßenseiten, fünfundsiebzig Schaufenster. Harrods. Die Ikone unter den großen internationalen Kaufhäusern, die dieses Dasein mit einer Würde aus edler Terrakottafassade nach außen trägt. Ein Ort, der alles verspricht, was das Konsumzeitalter im Angebot hat, vom indischen Elefanten bis zur Champagnerpraline. Ein Innenraum, der schöne Illusionen schafft, insbesondere in der Vorweihnachtszeit. Wann, wenn nicht dann? Zu keiner Zeit im immer jahreszeitloseren Jahr gehen Konsum und der romantische Traum von allumfassender Harmonie eine engere Verbindung ein – aller hartnäckigen Konsumkritik zum Trotz, entgegen allen Versuchen, eine „Kauf nichts“-Weihnacht zu etablieren, wie zuletzt dem des Amerikaners Aiden Enns. Es gehe doch nicht um den Kauf von Geschenken, um abgehetzt und gestresst erworbene, massenhaft produzierte Waren, die schlicht ausgetauscht würden, sondern um das Schenken, um Liebe und um deren gegenseitige Versicherung.
Handelt es sich da wirklich um einen Gegensatz? Hat die Konsumkultur Weihnachten „gestohlen“, wie Enns und andere behaupten? Neben dem Schaufenster der Schneekönigin öffnet sich eine der Glastüren, ein Mann in schwarzer, eng geschnittener Uniform und Schirmkappe hält sie mit einer Hand auf. Der Harrods-Doorboy lächelt, freundlich, aber unnahbar. Keine der Türen im Harrods schließt und öffnet sich automatisch. Kein Warmluftgebläse begrüßt die Kunden mit einem Stoß heißer, stickiger Luft. Dieses Kaufhaus empfängt jeden seiner Besucher frisch klimatisiert und wohl temperiert. Nichts riecht nach Massenkonsum, nach Schnäppchen- und Wühltischjagd. Touristen, eingesessene, reiche Stammkundschaft, Weihnachtsshopper – sobald sie die Schwelle zu dem Reich hinter den verlockenden Schaufenstern übertreten haben, wartet ein noch größeres Versprechen in den marmorierten Eingangshallen. Neben den Treppenaufgängen leuchten Säulen aus weißem Glas, verziert mit orangefarbenen Streifen und grünen, kleinen Quadraten. Hier, bei Harrods, so versprechen sie wie jedes der minutiös gestalteten Details dieser gut elf Hektar umfassenden Verkaufshallen, findet sich keine Konsumkultur, sondern eine Kultur des Konsums. Selbst im verhassten und vielfach geschmähten Weihnachtsgeschäft. Selbst im 21. Jahrhundert.
Es ist ein kitschiges Versprechen, selbstverständlich, aber ein zeitgemäßes. Denn wie Jürgen Kaube in der FAZ meint, handelt es sich bei allen Versprechungen der Warenwelt um nichts anderes als „sozialpsychologischen Kitsch“, gemäß der klassischen Definition in der Kunst von Clement Greenberg aus dem Jahr 1939 in „Avantgarde und Kitsch“, wonach Kitsch psychische Effekte durch ästhetische Mittel erzeugt. Beim Weihnachtskonsum zählen die psychosozialen Effekte: Es zählt der Erwerb eines Geschenks, das perfekt auf die Identität des Beschenkten zugeschnitten ist, das gleichzeitig jedoch Individualität beteuert, das schließlich bei der Übergabe eine besondere emotionale Beziehung zwischen zwei Menschen bestärkt. Ein illusionärer Anspruch, der vor allem in Luxushäusern wie Harrods auf das Versprechen seiner Einlösung trifft.
Bereits vormittags, kurz nachdem Harrods geöffnet hat, passieren Tausende von Schenk- und Kaufwilligen die Türen. Und Tausenden wird der Eingangsbereich dieses Kaufhaus die Entscheidung, welchen der vier Pfade sie als Erstes wählen sollen, schwer machen. Oben, unten, links, rechts – hinter jeder der runden Arkaden glitzern Vitrinen, huschen, bummeln und eilen Singles, Paare und Familien vorbei. Im Hintergrund läuft Weihnachtsmusik, keine Kaufhausmusik, Swing, Jazz, „Santa Claus“ und „Let it snow“. Sie scheint wie die Abteilungen ineinanderzufließen, die beigefarbenen Fliesen weisen den Weg. Zu Goldschmuck, und Diamantenketten, Einzelstücken von Millionenwert, auf Samtkissen gebettet? Oder zu den Patés leiten lassen, zu Wurstkringeln, die neben Champagnerflaschen auf ihren Verzehr warten? Oder zu den Sonnenbrillen, Gucci, Armani, Ray-Ban? Oder doch zur Parfumabteilung, in der jede Marke eine kleine Insel errichtet hat, an denen Frauen in blauschwarzem Kostüm wie zufällig platziert sind und für jeden, ob kaufwillig oder interessiert oder nur staunend, eines dieser freundlichen, aber unnahbaren Harrodslächeln zeigen?
Bei Harrods ist jeder der Pfade das Ziel. Flaneure sollen sie sein, in guter Nachfolge Walter Benjamins, der seit seinem Passagenwerk in jedem Kaufhaus der Welt zitierfähig ist. Flaneure in den „Wallfahrtsstätten zum Fetisch Ware“. Besonders in der Weihnachtszeit erhebt Benjamins Allegorie aus dem 20. Jahrhundert auf die pseudoreligiöse Bedeutung der frühen Kaufhäuser wieder Anspruch auf Gültigkeit. Wer nicht flanieren will, surft und klickt und shoppt sich durch die Onlinewarenwelt. Oder geht zu Karstadt.
Die anderen lehnen wie jener ältere Herr mit Seidenschal und orange-beigefarbenem Anzug an einer der Inseln in der Parfumwelt. Unterhält sich mit der Verkäuferin, sucht Rat, für seine oder auch eine andere Frau, plaudert, während neben ihm ein Hauch von Charlize Theron eine modern-heilige Aura verbreitet: in sanftem Rosé präsentiert Gucci hinter Glas das Originalkleid und die Pumps, die die Oscargewinnerin im Fernsehfilm „J’Adore“ getragen hat. Konsumavantgarde trifft Pop, lautet die zeitgemäße Devise des 1849 eröffneten Kaufhauses. So kommt der Weihnachtswarenkitsch bei Harrods ohne Glühweinbuden, Kunsthandwerkverschnitt und schlecht gelaunte Verkäufer aus. Es zählen die romantische Verführung, der Fetisch und all die anderen Begehren, an denen sich Kulturkritik bis heute abarbeitet. Vor dem Kaufakt steht die Verführung, auch jener – der Mehrheit –, die in bestem Wissen durch dieses Kaufhaus flanieren, dass sie den Preis für diese Verführung niemals werden zahlen können.
Die anderen, die Harrodianer, wie sie vom Verkaufspersonal liebevoll genannt werden, lassen sich gerne auf das Spiel ein zwischen Kunde, Geschenkekäufer und Beraterinnen wie Joanna Cylna. Wie alle trägt sie ein schwarzes Kostüm, steht dezent an dem Kassenpult einer der begehrtesten Abteilungen: Unterwäsche, Mieder, handgefertigte japanische Kimonos, Strapse und Edelpeitschen. „Vor Weihnachten berate ich vor allem Männer“, sagt sie und lächelt, „obwohl es das denkbar einfachste Geschenk für Frauen ist, wählen Männer immer wieder Unterwäsche.“
Im Stockwerk über Cylnas Wirkstätte flanieren jene Frauen, für die womöglich gerade ein Geschenk ganz individuell ausgewählt wurde, über einen roten Kunststoffteppich. Aus den Lausprechern singt ein Bass „It’s Christmas time“, rotes Licht spiegelt sich in golden-grün-rot glitzernden Christbaumkugeln, die an einem der Stände hängen. Lichterketten blinken. Silberne, große Glocken baumeln an grünen Tannenbaumzweigen, kleine, braune Teddybären mit roten Kapuzenjäckchen, die legendären Harrods-Weihnachtsbären, sehen ihnen dabei zu. Kleine bunte Porzellankatzen, -hunde, -bären warten an ihren Schnüren darauf, an den Weihnachtsbaum gehängt zu werden. Geschenkpapierrollen, silber, gold, grün, rot, mit passenden Bändern, Weihnachtsgrußkarten, Süßigkeiten. Hier, im zweiten Stock, locken die restlichen Utensilien der großen, kitschigen Weihnachts-, Fest-der-Liebe-Inszenierung. Willkommen in der „Christmas World“, designed by Harrods.
SUSANNE LANG, Jahrgang 1976, ist Redakteurin bei taz zwei. Ein Austauschprogramm hat sie nach London geführt
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