: Jung und lebensmüde
Kinder sollen lachen, spielen, toben – stattdessen leiden immer mehr unter Depressionen. Diese äußern sich unterschiedlich. Manche Jungen und Mädchen kapseln sich ab, andere schlagen um sich
VON ANGELIKA FRIEDL
Lars kann seit vielen Monaten schlecht einschlafen. Abends im Bett grübelt der Siebenjährige über Probleme nach, die eigentlich in die Welt der Erwachsenen gehören. Es sind quälende Gedanken um seine Zukunft. Wird er später mal eine gute Frau finden und wird er in der Lage sein, seine Familie zu ernähren? „Lars lebt, ganz untypisch für ein Kind, nicht mehr in der Gegenwart“, sagt sein Arzt, Professor Kai von Klitzing von der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Kindes- und Jugendalters am Universitätsklinikum Leipzig.
Die Schlafstörungen waren aber nicht der einzige Grund, warum die Eltern ihren Sohn schließlich zu einem „Psychiater“ brachten. Lars fiel in der Schule auf, er bekam urplötzlich Wutausbrüche, prügelte sich mit seinen Klassenkameraden, zog sich aber sonst immer mehr in sich zurück. Kein anderes Kind wollte mehr sein Freund sein.
Eine Depression zu diagnostizieren ist schon bei Erwachsenen nicht einfach. Noch schwerer gelingt dies bei jungen Menschen. „Kinder zeigen zum Teil andere depressive Symptome als Erwachsene“, erklärt von Klitzing. Die Krankheitszeichen sind vielfältig und werden von Eltern, Ärzten und Lehrern leicht übersehen oder falsch interpretiert: Oft sind die Kinder leicht reizbar und hyperaktiv, manchmal aber auch introvertiert. Viele können sich nicht richtig freuen, leiden an Ess- und Schlafstörungen.
Schon ganz kleine Kinder können an einer Depression erkranken, zum Beispiel als Reaktion auf traumatische Erlebnisse oder wenn die Mutter selbst depressiv ist. Solche Kinder wirken dann sehr ruhig und traurig, der Ausdruck ihrer Gesichter ändert sich nur selten, manche lutschen sehr stark an ihrem Daumen, trinken und essen wenig oder im Gegenteil sehr viel.
Die Symptome depressiver Jugendlicher ähneln dagegen denen von Erwachsenen: Sie haben wenig Selbstvertrauen, klagen über Ängste, können sich schlecht konzentrieren, fühlen sich apathisch und müde. Häufig leiden sie an körperlichen Symptomen wie Kopf- oder Magenschmerzen. Während Mädchen und Jungen im Kindesalter etwa gleich häufig von depressiven Episoden geplagt werden, übertreffen Mädchen ab dem Alter von 14 die Jungen bei weitem. Auf jeden erkrankten Jungen kommen dann zwei Mädchen.
Wissenschaftler schätzen, dass insgesamt etwa 2 Prozent der Kinder bis 14 Jahre an schweren depressiven Störungen erkranken und etwa 4 bis 8 Prozent der Jugendlichen. Das bedeutet, dass über 160.000 junge Menschen in Deutschland depressiv sind.
Lars braucht Hilfe, keine Frage. Aber welche? „In solchen Fällen ist der erste Schritt die Arbeit mit den Bezugspersonen“, erläutert von Klitzing. Eltern, Verwandten und Lehrern muss klar werden, dass das Problem nicht Lars’ auffälliges Verhalten ist, sondern dass es ihm schlecht geht.
Lars wird jetzt für mehrere Jahre eine psychoanalytische Therapie machen, die ihm helfen soll, unbewusste Schuldgefühle aufzudecken und sein Selbstbewusstsein zu stärken. „Die Kinder müssen aber auch für eine Therapie motiviert werden, und die Eltern müssen bereit sein, Veränderungen in ihrer Haltung gegenüber dem Kind zuzulassen. Schließlich sollen Kind und Eltern offen für eine Therapie sein“, sagt von Klitzing.
Eine weitere Möglichkeit wäre eine kognitive Verhaltenstherapie, in der Patienten lernen, über Vorstellungen und Gedanken ihr Erleben positiv zu beeinflussen. Bei kleinen Kindern, die über ihre Erfahrungen noch nicht richtig reden können, sind auch Eltern-Kind-Psychotherapien bewährte Mittel.
Als letzter Schritt bleiben Medikamente – aber nur in schweren Fällen, etwa wenn ein Jugendlicher überhaupt nicht mehr aus dem Bett aufstehen will. Viele Arzneimittel sind jedoch für Patienten unter 18 Jahren gar nicht zugelassen. Eine Behandlung erfolgt dann „Off-Label“, das heißt, der Arzt setzt ein an sich zugelassenes Medikament außerhalb des vorgeschriebenen Anwendungsgebiets ein. Das birgt Risiken für die Kinder, und der Arzt handelt in einer juristischen Grauzone. Geht etwas schief, kann die jeweilige Krankenkasse Regress von ihm fordern. Verordnet ein Arzt Psychopharmaka, sind das oft sogenannte Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI). Einer von ihnen, Fluoxetin, ist seit Sommer 2006 auch in Deutschland für Kinder ab acht Jahre zugelassen.
Der kleine Lars hat Glück: Er bekommt rechtzeitig Hilfe. Etwa 70 Prozent der kranken Kinder und Jugendlichen werden jedoch gar nicht behandelt. Dann kann eine Erkrankung chronisch werden, und auch die Gefahren eines Suizids erhöhen sich – besonders bei Jungen. Sie haben ein dreimal höheres Selbstmordrisiko als Mädchen. Im Durchschnitt begeht ein Kind unter hunderttausend Kindern Selbstmord. Noch dramatischer sieht die Situation bei Jugendlichen bis 25 Jahren aus. Hier bringen sich jährlich 14 unter hunderttausend um. Diese Zahlen passen zu einer Einschätzung der Weltgesundheitsorganisation WHO. Danach sollen im Jahre 2020 Depressionen, gleich nach Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die häufigste Krankheit mit hohem Sterblichkeitsrisiko sein.
Mehr Informationen zu Depressionen bei Kindern und Jugendlichen unter: www.buendnis-depression.de www.kinderaerzteimnetz.de www.depressionen-depression.net
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