: Rechtsextremismus – ein Euro-Phänomen?
taz-Serie: Teil I ■ Peter Dudeck / Hans-Gert Jaschke
EG-Europa vereinigt sich – die Rechtsextremisten ebenso. Ein Zusammenhang? Ist der wachsende Zulauf zu rassistischen Populisten wie Frankreichs Jean-Marie Le Pen eine Folge des Strukturwandels im Vorfeld des Binnenmarktes oder eine ganz „normale“ Pathologie von Industriegesellschaften in der Krise?
Bisweilen sind sie zersplittert in sich befehdende Grüppchen, Vereine, Parteien – immer öfter schließen sie sich zu diffusen Netzwerken zusammen: die Ewiggestrigen rüsten für morgen, rekrutieren Nachwuchs und bereiten sich auf die Europawahlen 1989 vor. Statt eines „Europa der Regionen“ nun ein Europa der Nationalismen?
Eine taz-Serie mit Analysen und Bestandsaufnahmen aus der BRD, Frankreich, Italien, Österreich und Skandinavien. Zum Auftakt sechs Thesen der Frankfurter Sozialwissenschaftler Peter Dudeck und Hans-Gert Jaschke.
Ein neues Gespenst geht heute auf der politischen Bühne Europas um: die Xenophobie.“ Zu dieser Einschätzung kam der Ende 1985 veröffentlichte Bericht des Untersuchungsausschusses des Europäischen Parlaments über das „Wiederaufleben des Faschismus und Rassismus in Europa“. Im deutschen Bundestag wurde der Bericht nie zur Kenntnis genommen. Die Einrichtung dieses Ausschusses, gegen den Widerstand der Rechtsextremisten unter Le Pen durchgesetzt, war ein Signal: Man hatte begonnen, auf höchster politischer Ebene die Existenz faschistischer und rassistischer Bewegungen in Europa als politische Gefahr wahrzunehmen.
Das rechtsextreme Netzwerk spannt sich über ganz Europa, eigentümlich zählebig und dauerhaft, aber facettenreich und mit unterschiedlichem politischen Gewicht. Hier im Untergrund, dort bürgerlich-rechtskonservativ in den Parlamenten.
Es gibt gegenwärtig kaum brauchbare Erklärungen für das vielgestaltige Europaphänomen Rechtsextremismus. Der sich im „Historikerstreit“ selbst diskreditierende Ernst Nolte hat in seinen besseren Zeiten darauf hingewiesen, daß Faschismus ein europäisches Epochenphänomen der Zwischenkriegszeit von 1918 bis 1939 gewesen sei. Leben wir demzufolge in einer Epoche des „Nachfaschismus“, haben wir es mit einem letzten, bald vergehenden Aufbäumen des alten Faschismus zu tun? Oder speisen sich die gegenwärtigen faschistischen und rassistischen Bewegungen aus anderen politischen und ideoloigischen Antriebsmotiven?
Der Kölner Soziologe Erwin K. Scheuch hat vor zwanzig Jahren den Rechtsextremismus als eine „normale Pathologie westlicher Industriegesellschaften“ bezeichnet. Diese aus der Wahlforschung stammende These darf getrost als die wissenschaftliche Version der konservativen Vermutung gedeutet werden, daß alles gar nicht so schlimm sei und man schließlich mit ein paar Ewig-Gestrigen leben könne und müsse. Sie hat, anstatt genaueres Nachfragen und breitere Forschungen zu initiieren, eher zu Beruhigung der Gemüter und zum wissenschaftlich abgesegneten Desinteresse geführt. Sie war und ist aber auch die konservative Antwort auf den Gemeinplatz, daß Faschismus etwas mit Kapitalismus zu tun hat.
Es sind vor allem traditionell marxistisch argumentierende Autoren, die auch für den aktuellen Rechtsextremismus jenen Zusammenhang betonen. Sie unterstellen in der Regel, daß Teile der gesellschaftlichen Führungsschichten mit rechtsextremen Organisationen gemeimsame Interessen vertreten. Damit behaupten sie, der Rechtsextremismus besitze die Funktion eines mobilisierbaren Instruments, das dem Kapital zur Verfügung steht. Da dieser Ansatz stark auf die Krisenhaftigkeit kapitalistischer Gesellschaften abhebt und in ihr eine Auslöserfunktion für politisch regressive Bewegungen sieht, müßte er nicht nur menetekelhaft das Gefahrenpotential eines neuen Faschismus beschwören. Er müßte erklären, warum trotz jahrelang anhaltender ökonomischer und politischer Krisen der Massenzulauf zur extremen Rechten – mit Ausnahme von Frankreich und einigen nordeuropäischen Ländern – ausbleibt.
Unsere folgenden Überlegungen und Thesen verstehen sich als Anstöße zu einer überfälligen Debatte über die Ursachen, das Ausmaß und die Reichweite rechter und rechtsextremer sozialer Bewegungen in Europa. Dabei gehen wir davon aus, daß diese keineswegs zwangsläufiges Produkt tiefer ökonomischer Krisen sind, sondern gleichsam in Wellenbewegungen als Störfaktoren einer demokratischen politischen Kultur auftauchen. Mit anderen Worten: Die extreme Rechte ist ein kulturelles und ein politisches Phänomen. Seine Existenz und Dauerhaftigkeit kann nur verstanden werden, wenn man seine ideologische Kraft und deren Mobilisierungsfähigkeit berücksichtigt.
Erstens: Der organisatorische Rechtsextremismus in Europa ist eine Nachkriegserscheinung
Der Ausgang des Zweiten Weltkrieges und die europäische Neuordnung bewirken die offizielle Diskreditierung aller politischen Richtungen, die in der Nähe des Faschismus stehen. Obwohl die politische Verarbeitung des Zweiten Weltkrieges und der rechten Ideologien in den verschiedenen Ländern unterschiedlich verläuft, ist die politische Ächtung und Ausgrenzung der extremen Rechten ein gemeinsames Ergebnis in West- und Nordeuropa. Die iberischen Rechtsdiktaturen Francos bzw. Salazars und Caetanos stellen dabei ein gesondertes Problem dar. Politische Isolierung und Integration waren seit 1945 zwei Strategien, mit rechtsextremen Strömungen und Protestpotentialen umzugehen. Die Entnazifizierung in den Westzonen oder die vergleichbare „epuration“ (Reinigung) in Frankreich, die sich gegen Kollaborateure richtete, waren eher symbolische Schritte. Doch die Beteiligung des Widerstandes an der politischen Verantwortung in Italien und Frankreich etwa signalisierte die entschiedene Absage an die faschistische Vergangenheit.
Nach 1945 reformiert sich das rechte Potential unter Bedingungen der Verfolgung und Diskreditierung. Es versammelt Integrationsunwillige und –unfähige. So entstehen halbklandestine Gruppen, die sehr bald ein europäisches Netzwerk aufbauen. Die Konferenz von Malmö 1951 unter maßgeblicher Verantwortung des schwedischen Rechtsextremisten Per Engdal ist das Folgetreffen einer vom italienischen MSI 1950 in Rom einberufenenen Konferenz der Europa-Rechten. Sie begründet die Zusammenarbeit der schwedischen Rechten (Engdal) mit der britischen (Mosley), der französischen (Bardeche), der deutschen (Priester) und einigen weiteren. Noch heute spürbares Ergebnis der Malmö –Bewegung ist die seinerzeit beschlossene Gründung von 'Nation Europa', einer rechten Monatszeitschrift, die mit einer Auflage von über 10.000 Exemplaren in Coburg erscheint und als ideologische Klammer des zersplitterten rechten Lagers fungiert. In dieser, über die rechtsradikale Szene hinausweisenden, Teile der Unionsparteien und Vertriebenenverbände erreichenden Zeitschrift schreiben gelegentlich selbst CDU-Autoren.
Die Malmö-Konferenz bewirkt die Entstehung und Ausbreitung eines organisierten Netzwerkes der europäischen Rechtsextremisten. Es stiftet und bewahrt ideologische Traditionen von der Action Fran?aise über Oswald Mosley bis hin zu Giorgio Almirante. Es stiftet kommunikative Zusammenhänge auf der Ebene gemeinsamer Treffen, des Austausches von Zeitschriften und kultiviert in Teilen die Europa-Ideologie der ehemaligen Waffen-SS. Nicht zuletzt gewährt es ehemaligen Nazis, Faschisten und Kollaborateuren Unterstützung und bemüht sich um die Rekrutierung von Nachwuchs.
Ein Steuerungszentrum der Euro-Rechten war bislang und ist auch heute trotz vielfältiger Beziehungen nicht auszumachen. Am ehesten sind solche Bemühungen in den letzten Jahren in den Kreisen der harten NS-Kadergruppe festzustellen. Ihr Zusammenschluß, die Mitte der achtziger Jahre aus der Taufe gehobene „Europäische Bewegung“ (EB), geriet schon kurz nach ihrer Gründung durch die Debatte um die „Homosexuellen –Frage“ in eine Krise und ihr Schicksal wird vermutlich dem ihrer Vorläufer sehr ähnlich sein: es zerfasert im Gestrüpp nationaler Besonderheiten, fraktionierender Richtungskämpfe und personeller Führungsquerelen. Gleichwohl gibt es eine viel zu wenig beachtetete Nachkriegstradition der Euro –Rechten, deren gemeinsamer Bezugspunkt darin besteht, die Geschichte nach 1945 von rechts zu revidieren: Sie wollen die Diskreditierung des Faschismus rückgängig machen und bekämpfen die demokratischen Verfassungsstaaten sowie liberale und sozialistische Strömungen.
Zweitens: Die Ideologie der extremen Rechten reagiert auf Modernisierungsschübe
Themen und politische Deutungsmuster der Euro-Rechten stammen aus zwei unterschiedlichen Reservoirs. Sie sind von rückwärts gewandten, auf Traditionsstiftung angelegten ideologischen und symbolischen Inhalten geprägt. Zugleich fließen die gegenwärtigen strukturellen Krisenerscheinungen
–Arbeitslosigkeit und Migration – mit ein. Hier zeigt sich, daß Rassismus und Antisemitismus weit über den Rahmen des historischen Faschismus hinausreichen.
Die Liberalisierung des europäischen Marktes im Rahmen prosperierender Nachfrage und hohen Kapitaleinsatzes bewirkt seit den sechziger Jahren eine europäische Mobilität des Arbeitskräftepotentials. Innerhalb einer Gesellschaft wie Italien verbleibt die Mobilität im nationalen Rahmen, wenn die Arbeiter des ausgebeuteten Südens von den Industrien des Nordens angeworben bzw. wegen der ökonomischen Strukturschwäche des Südens dort ihre Arbeitskraft verkaufen müssen. Allein zwischen 1952 und 1962 wechseln fast 16 Millionen Italiener, ein Drittel der Bevölkerung, ihren Wohnsitz, vom Süden nach Norden, vom Land in die Stadt. Hier richtet sich daher die Xenophobie auch gegen die eigenen Landsleute aus dem Mezzogiorno.
Großbritannien sucht als Spätfolge imperialer Großmachtansprüche den Zuzug von Arbeitskräften aus dem Commonwealth vergeblich zu verarbeiten. In Frankreich ist der Zuzug aus dem Maghreb überlagert von der Hypothek der französischen Niederlage im Algerien-Krieg. Der Fremdenhaß in der Bundesrepublik richtet sich vor allem gegen die türkischen ArbeitnehmerInnen und ihre Familien, denen das Recht, dort zu leben, wo sie arbeiten (müssen), aberkannt wird. Gerade ihnen gegenüber werden die Liberalisierung des europäischen Binnenmarktes und die europäischen Freizügigkeitsklauseln mit Einschränkungen versehen. Mit dem Hinweis, die Bundesrepublik sei kein Einwanderungsland, schiebt man sie ab. Ähnliche Strategien der Abwehr lassen sich in fast allen europäischen Ländern auf dem Gebiet des Asylrechts beobachten.
Die hohe Mobilität setzt hier wie dort eine Dynamik von Assimilation und Ausgrenzung, von sozialer Integration und offenem Fremdenhaß frei, die sich in zählebiger Xenophobie äußert. Sie ist der klassische Nährboden des organisierten Rechtsextremismus. Ihre Wirkung reicht weit über dessen politische Einflußmöglichkeiten hinaus. Die Fremdenfeindlichkeit ist zwar eine klassische Domäne der „rassistischen Internationale“, doch diese hat darauf kein Monpol. Das Ressentiment sitzt tief – es macht auch nicht vor den nationalen Arbeiterbewegungen halt. Es bestimmt zum Beispiel die Politik mancher kommunistischer Bürgermeister in Frankreich. Die Erfolge Le Pens in den Industriegebieten der Ile de France, Elsaß/Lothringen und um Marseille sind ein weiterer Beweis dafür, daß traditionell linkes Wählerpotential vor rassistischen Vorurteilen nicht gefeit ist.
Kehrseite der Migration und Folge der ökonomischen und kulturellen „Amerikanisierung“ Europas nach dem Zweiten Weltkrieg sind Erscheinungen, die unter dem Etikett „Wertewandel“ verbucht werden. Dazu gehören Hedonismus und Materialismus, zunehmende Skepsis gegenüber der Kirche und die Kommerzialisierung des Jugendalters ebenso wie die Liberalisierung der Erziehungsstile und die weitgehende Freisetzung kultureller Traditionen. Die scheinbar verläßlichen alten Orientierungssysteme geraten in Bewegung. Es ist letztlich die Ideologie des Konsums, die für eine systemkonforme Ausrichtung des Wertewandels sorgt. Unter welchen nationalspezifischen Besonderheiten dieser Wertewandel auch immer verläuft: Die Ideologie der extremen Rechten reagiert abwehrend auf diesen Wandel. Sie naturalisiert Begriffe wie Nation, Vaterland, Ehre, Volk, Rasse.
Nicht zufällig spielt deshalb die Biologie in der Ideologie der Rechten eine herausragende Rolle. Sie liefert dem rechtsextremen Protestpotential die Schlüsselbegriffe für eine biologisch eingefärbte nationalistische Gemeinschaftsrhetorik. Damit versuchte sie in den letzten Jahren – inspiriert durch die Neue Rechte – ihre ideologischen Argumentationslinien „wissenschaftlich“ zu drapieren. Auch hier läßt sich eine europaweite Tendenz feststellen: Es gibt eine neue wissenschaftliche Intelligenz im rechten Lager, deren Rolle als ideologische Vordenker wächst und die dieser Rolle durch ihre akademischen Titel und ihre „wissenschaftliche Sprache“ Geltung verleihen. Am Beispiel der Karriere, die der kulturpolitisch gewendete Begriff der „nationalen Identität“ in den letzten Jahren gemacht hat, läßt sich studieren, wie es der Euro-Rechten gelungen ist, eine autoritär-nationalstaatliche Politikkonzeption umzuinterpretieren und in die öffentliche Diskussion zu lancieren.
Die ideologischen Schlüsselbegriffe der Rechten übernehmen nicht nur die Funktion politischer Deutungsmuster. Sie haben auch stets appellativen Charakter. Sie richten sich damit an die Nonkonformisten der Modernisierungsschübe, an jene, welche aus traditionalistischen oder sozialen Gründen nach festem Halt suchen, nach rigiden, verläßlichen Weltbildern unter autoritären, hierarchischen Vorzeichen.
Drittens: Rechtsextremismus ist radikaler Konservatismus
Was haben die britischen Tories mit den bundesdeutschen Christdemokraten gemeinsam? Nun, sie gehen auf politische Distanz zu den Rechtsaußen-Parteien ihrer Länder, National Front und NPD. Und was verbindet die französischen Neo –Gaullisten mit der italienischen Democrazia Cristiana? Sie arbeiten mit Front National und MSI zusammen. Seien es Absprachen über Wahllisten oder, wie in Italien, eine abgesprochene „Strategie der Spannung“ gegenüber dem linken Terrorismus der siebziger Jahre. Dennoch: Die Frage nach Kooperationen, nach persönlichen Kontakten sagt wenig über das Verhältnis von Konservatismus und Rechtsextremismus aus.
Der viel zu früh gestorbene und viel zu wenig gelesene Marburger Soziologe Werner Hofmann hat einmal die Beziehung beider beschrieben als prekäre Radikalisierung von politischen Absichten: „Der Rechtsradikalismus nimmt die regierende Rechte beim Wort. Er spricht aus, was andere nur denken; ihre verhohlenen Wünsche will er vollstrecken, ihre halben Unternehmungen zu Ende führen. Er tritt auf als der entschiedene, zu Taten drängende, aktivistische, aggressive Vollender dessen, was die anderen bloß wollen. Er setzt sich hierbei über die institutionellen Hemmungen, die moralischen Bedenken, die taktischen und ideologischen Rücksichten derer, die ihre Macht durch das Interesse begrenzt finden. Der Rechtsradikalismus vermag unter diesen Umständen in der Haltung des Decouvrierenden aufzutreten; er ist das Enfant terrible jener, die zu den Konsequenzen ihrer eigenen Absichten sich nicht bekennen wollen.“
Hofmanns pointierte Einschätzung bezog sich auf die deutsche Situation vor circa 20 Jahren, als die NPD in sieben Länderparlamente einzog. Sie hat an Aktualität wenig eingebüßt. Bei allen prinzipiellen Differenzen, die den Konservatismus von den Underdogs der Euro-Rechten, den harten NS-Kadergruppen, unterscheiden mögen, gibt es doch ideologische Brücken nach rechtsaußen. So sind Antiliberalismus, Law-and-order-Mentalität, Nationalismus und biedere Volkstümelei Bestandteile eines Gemenges, aus dem sich beide Strömungen bedienen. Hier liegen Chancen und Grenzen rechtsextremer Politikangebote.
In Frankreich ist es Le Pen und seiner Partei gelungen, die Xenophobie mit national-populistischen Strategien zu politisieren. Er greift zurück auf die Traditionslinien des „Poujadismus“, einer rechten Protestbewegung von Bauern und Kleinhändlern aus den fünfziger Jahren. Er realisiert auch den Kampf für die „Algerie fran?aise“ und gewinnt damit ein stabiles Wählerpotential sozial und ökonomisch Verunsicherter, das die französichen Konservativen nicht mehr bedienen konnten.
In Deutschland wurde ab 1970 der Niedergang der NPD gerade dadurch eingeleitet, weil sie außenpolitisch – im Kampf gegen die Ostverträge – von der CDU/CSU nicht mehr unterscheidbar war. In Italien stagniert der MSI seit Jahren, weil er in zentralen politischen Fragen auf einer Linie mit anderen konservativen Parteien liegt. Hierzulande gewinnen die Zwerge am rechten Rand seit einiger Zeit Wählerstimmen, so daß sie zumindest in den Genuß der Wahlkampfkostenrückerstattung kommen. Und sie gewinnen ihre Wähler in jenen Regionen, in denen die Politik der Christdemokraten ihr Wählerpotential am rechten Rand nicht mehr bedient.
Viertens: Gewalt von rechts hat zu tun mit der Gewalt in der Gesellschaft
Rechtsextreme Gewalt verkörpert sich historisch zum Beispiel im „Kampf um die Straße“, als die SA zu Ende der Weimarer Republik ihren Herrschaftsanspruch „gegen marxistischen Terror und bürgerliche Feigheit“ militant anmeldete. Die „squadrismo“, Gefolgsleute Mussolinis, begingen nur wenige Jahre vorher eine Vielzahl von Attentaten und Überfällen. 1975 wurde von der lombardischen Regionalregierung eine Statistik vorgelegt, derzufolge zwischen 1969 und 1974 mehr als 1.100 neofaschistische Gewalttaten verübt wurden. Einen Markstein setzte dann der Anschlag auf den Bahnhof in Bologna 1980. Auch in der Bundesrepublik nimmt die Gewalt von rechts seit den Siebzigerjahren zu. Für 1987 registriert der Verfassungschutzbericht über 1.400 „Gesetzesverletzungen mit rechtsextremistischem Hintergrund“. In Großbritannien ist es die unrühmliche Militanz der Hooligans, die von sich reden macht.
So unterschiedlich sich auch Militanz ausdrückt: Gewalt von rechts ist verwickelt mit der Gewalt in der Gesellschaft. In Italien entspricht der „schwarze Terror“ noch am ehesten einer politischen Strategie, indem er sich als Stoßtrupp gegen die Linke präsentiert. Aber Korruption und Ineffizienz der Behörden, ein differenzierteres Patronage-System um die Democrazia Cristiana zur Sicherung von Pfründen und nicht zuletzt die Kolonialisierung des Südens und ausgeprägte Gewalt- und Aufstandstraditionen verknüpfen die rechte Militanz mit innerstaatlichen Gewaltverhältnissen.
Anders in der Bundesrepublik und in Großbritannien. Gewalttätigkeit ist in diesen Ländern politisch eigentümlich ziellos. Sie entspringt eher der Revolte einer marginalisierten, chancenarmen jugendlichen Szene von Außenseitern. Die Ghettos von Liverpool, Birmingham und dem Londoner East End, Opfer einer Austeritätspolitik, welche die Integration der sozial Schwachen nicht vorgesehen hat, lassen hier ein Klima diffuser Gewaltbereitschaft entstehen. In der Bundesrepublik ist es weniger ein sozialer als ein politischer Ausgrenzungsmechanismus, der die Gewalt von rechts fördert. Durch die Hypotheken des Dritten Reiches eingezwängt in politische Subkulturen sanktioniert die politische Justiz rechte Meinungsdelikte dort frühzeitig, wo Tat und Täter einen symbolischen Status besitzen (zum Beispiel Kühnen). Der Ruf nach einer hart durchgreifenden Justiz mag politisch verständlich sein, bleibt jedoch kontraproduktiv. Durch rigide politische Hygiene wird die Desintegration rechtsorientierter Jugendlicher vorangetrieben.
Fünftens: Rechtsextremismus hat ein subjektives Ambiente
Pier Paolo Pasolini antwortete einmal auf den Wunsch eines Freundes, nie junge Faschisten kennenlernen zu müssen: Dieser Wunsch ist „eine Lästerung, denn wir sollten, im Gegenteil, alles tun, um sie zu finden und mit ihnen zu sprechen. Sie sind nämlich nicht vom Schicksal auserwählte und prädestinierte Ausgeburten des Bösen: Sie sind nicht geboren worden, um später Faschisten zu werden. Niemand hat ihnen, als sie halbwegs erwachsen und im Stande waren, sich zu entscheiden, (...) rassistisch das Brandmal eines Faschisten aufgedrückt. Was einen jungen Menschen zu dieser Entscheidung treibt, ist eine Mischung von grenzenloser Verzweiflung und Neurose, und vielleicht hätte eine kleine andersartige Erfahrung in seinem Leben, eine einzige simple Begegnung, genügt, um sein Schicksal anders verlaufen zu lassen.“ Es gibt keinen biographischen Determinismus, der junge Menschen zu Neonazis werden läßt, ebenso, wie es keinen ökonomischen Determinismus gibt, der Rassismus zwingend macht. Die Hinwendung speziell Jugendlicher zu rechtsextremen Gruppen oder militanten, männlichkeitsfixierten Subkulturen wie Skinheads oder Hooligans ist nur eine von mehreren möglichen Ausdrucksformen politischer Entfremdung. In diesen Gruppen entwickeln Jugendliche eine Form von moralischem Rigorismus, der sozialdarwinistisch ausgeprägt ist.
Aus der Biographieforschung wissen wir, daß für rechtsextreme Jugendliche eine besonders schwere Adoleszenzkrise charakteristisch ist, das heißt, daß sie eine überdurchschnittliche Anhäufung von Problemen in der Reifungsphase zu verarbeiten haben. Hierzu zählen Konflikte im Elternhaus, Schwierigkeiten am Arbeitsplatz, soziale Isolation und Probleme beim Umgang mit dem anderen Geschlecht. Je radikaler und militanter die einzelnen Gruppen sind, um so höher ist der Anteil der männlichen Jugendlichen. In diesem Kontext haben rechtsextreme Gruppen die Funktion, einfach strukturierte Orientierungsmuster anzubieten, die entdifferenzierte, dualistische Freund –Schemata transportieren.
Die Zugehörigkeit zur rechten Szene läßt sich deshalb sozialpsychologisch nicht allein mit Konzepten wie Adornos „autoritärem Charakter“ erklären. Als beherrschendes Grundmotiv galt der Konflikt zwischen herrschen und beherrscht werden, zwischen Stärke und Schwäche, und sie sah in der bürgerlichen Kleinfamilie den sozialen Ort, der die autoritäre Persönlichkeit hervorbringt. Adorno und andere unterschätzten dabei entscheidend das Eigengewicht außerfamiliärer Bedingungen. Die Entstehung politischer Orientierungen und politischer Handlungsbereitschaft ist eher als komplexes Wechselspiel unterschiedlicher Einflüsse wie soziale Isolation, Stigmatisierungserfahrungen und Dequalifikation zu verstehen. Zudem lassen sich Reaktionen der Öffentlichkeit, Polizei und Justiz von rechtsextremen Führern nutzen, um politische Karrieren zu fördern. Der idealtypische Endpunkt einer solchen Karriere ist der „politische Soldat“ in einem neonazistischen Zirkel, der Berufsnationalsozialist, jedweder privaten und beruflichen Perspektive beraubt.
Rechtsextremismus ist darüber hinaus auch eine Form der Lebenseinstellung. Das rechtsextreme Lager hat hier eine Vielzahl von symbolischen und rituellen Ausdrucksmöglichkeiten bereitgestellt: Angefangen von der Einübung einer bestimmten Körpersprache über Veranstaltungsrituale, Lieder und Schriften bis hin zu einer lagerinternen Semantik. All dies führt zur Verfestigung autoritär-nationalistischer und rassistischer Orientierungsmuster und zur politisch verbrämten Gewaltakzeptanz.
Sechstens: Der Antifaschismus hat in Europa nur eine schmale Basis
Historisch bezieht sich der Antifaschismus-Begriff auf die europäischen Faschismen in Italien und Deutschland. Seinen Sinn erhält das Programm des Antifaschismus, will man ihn nicht nur als individuelle Einstellung, sondern als politische Bewegung begreifen, als eine gründliche Umgestaltung von Staat und Gesellschaft. Damit war nicht nur die Wiederherstellung und Sicherung einer parlamentarischen Demokratie gemeint, sondern auch die Entmachtung der traditionellen Eliten, die Vergesellschaftung der Schlüsselindustrien und der Banken. Diese gesellschaftspolitische Perspektive hat in Westeuropa und speziell in der Bundesrepublik keinen sozialen Träger mehr. Antifaschismus kann sich hierzulande nicht mehr auf eine lebendige, aus gemeinsamen Lebenserfahrungen gespeiste politische Tradition stützen. Statt dessen wurde die gesellschaftspolitische Aufgabe der Vergangenheitsbewältigung an bestimmte Instanzen delegiert: die Justiz und das Bildungssystem. Auch im politischen Selbstverständnis der einzelnen europäischen Staaten in der Auseinandersetzung mit Rassismus und Neofaschismus spielt das antifaschistische Motiv nur noch eine untergeordnete Rolle.
Wie die rituellen Gedenkfeiern zum 9.November und der Fall Jenninger zeigen, ist die Aufarbeitung der Vergangenheit hierzulande mehr und mehr verkommen zu Fragen des politischen Stils und der angemessenen Etikette. Eine lebendige, offene Erinnerung, die den Namen „Trauerarbeit“ auch verdient und Konsequenzen für die Gegenwart zieht, kann aber nicht delegiert werden an Institutionen und die Vorgaben des Terminkalenders. Für die Auseinandersetzung mit rechtsextremen Tendenzen der Gegenwart genügt nicht die Moral des erhobenen Zeigefingers. Was nottut ist eine offene und breite kontinuierliche Diskussion darüber, was der sozialen Demokratie im Wege steht.
Nicht nur das „Dritte Reich“, mehr noch die Verdrängungen, Tabuisierungen und Verleugnungen nach 1945 müssen Thema einer Aufarbeitung der Vergangenheit werden. Das eine ist ohne das andere aus heutiger Sicht kaum verständlich. Dazu gehört die Verstrickung des politischen Konservatismus in rechtsradikale Denkmuster ebenso wie die Benennung von Verhaltenszwängen, die Vorurteilen, Intoleranz und autoritärem Gehabe Vorschub leisten. Ein solch beschwerlicher Weg erfordert langen Atem. Aber er ist wohl die einzige Perspektive, überzeugende und verwurzelte Barrieren gegen Rechts zu errichten.
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