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■ Joschka Fischer forciert die Annäherung zwischen EU und TürkeiDer lange Weg nach Helsinki

Offenbar meint die Bundesregierung es diesmal wirklich ernst. Fischers Auftritt in der Türkei legt nahe, daß die Bundesregierung sich entschieden hat: Die Türkei soll in Europa dabeisein, der versprochene Neuanfang in den Beziehungen erfolgt nach einer präzisen Verständigung über die eigenen Interessen und ist deshalb mehr als nur das übliche Wortgeklingel.

Wenn das so ist, wird es spannend. Die ersten Reaktionen in der Türkei nach dem Besuch machen die Dimension des Problems bereits deutlich. Fischers und Schröders Pech könnte darin bestehen, daß sie ohne eigenes Verschulden einfach zu spät kommen. Der bislang zwischen Bonn und Ankara, Brüssel und der Türkei angehäufte Berg an Unterstellungen und Mißverständnissen ist bereits so hoch, daß es trotz guten Willens mißlingen könnte, ihn bis zum EU-Gipfel in Helsinki aus dem Weg zu räumen.

Wohlgemerkt, das betrifft nur rein psychologische Probleme, ohne daß über die realen Interessengegensätze überhaupt gesprochen worden wäre. Die Situation in der Türkei ist schlicht so, daß niemand mehr daran glauben mag, daß das Land in einem überschaubaren Zeitraum noch eine Chance in Europa bekommt. Solange hier nicht wenigstens ein Minimum an Vertrauen wiederhergestellt wird, kann es keine Verständigung, keine Kompromisse geben.

Es spricht für die Regierung Schröder/Fischer, daß sie dies erkannt hat und entsprechend handelt. Während Fischer in Ankara für ein besseres Klima warb, empfing Schröder eine hochkarätige türkische Wirtschaftdelegation, und in Straßburg übernahm Fischer-Intimus Daniel Cohn-Bendit den Vorsitz in der gemischten europäisch-türkischen Parlamentarierkommission. Drei Signale in einer Woche, die das Interesse an der Türkei zeigen – auch wenn dies in der türkischen Öffentlichkeit so noch nicht wahrgenommen wird.

Der erste Lackmustest für die Ernsthaftigkeit des europäischen Interesses liegt aus türkischer Sicht im Umgang der EU mit ihrem Mitglied Griechenland. Solange die EU es sich, wann immer es um Versprechungen gegenüber der Türkei geht, hinter griechischen Vetos bequem macht, wird hier niemand an einen neuen Anlauf glauben. Fischer hat das verstanden und angekündigt, er werde als nächstes nach Athen reisen. Erst wenn die EU gezeigt hat, daß sie sich ihre Türkeipolitik nicht mehr nach Belieben von Athen blockieren läßt, wird es wieder eine Gesprächsbasis geben, auf der auch über Menchenrechte geredet werden kann, ohne daß gleich unterstellt wird, es gehe doch in Wahrheit um ganz anderes.

Erst dann wird man über die tatsächlichen Probleme ernsthaft verhandeln können. Erst dann wird es auch für die Türkei ernst, dann muß sie beweisen, daß sie bereit ist, die Regeln des Clubs zu akzeptieren. Das türkische Militär ist bekanntlich weit davon enfernt, die parlamentarische Demokratie vorbehaltlos anzuerkennen. Den Institutionen stünde ein enormer Umwandlungsprozeß bevor. Das gilt in noch größerem Maße für das Bewußtsein staatlicher Souveränität. Die schon in Bayern immer wieder lauthals beklagte Reglementierungswut der EU-Bürokratie würde in der Türkei in Dutzenden Fällen einen Sturm nationaler Entrüstung auslösen. Das Staatsverständnis der Türkischen Republik ist bislang nicht nur in der Frage des Umgangs mit nationalen Minderheiten meilenweit von dem der EU entfernt.

Trotzdem, gelingt es in Helsinki, die Türkei offiziell in den Kandidatenstatus zu setzen, wird es spannend am Bosporus. Dann müßten Fischer und sein türkischer Kollege Ismael Cem die „roadmap“, von der jetzt immer die Rede ist, auf den Tisch legen und die kommenden Schritte festlegen. In der Türkei existiert eine dynamische Gesellschaft. Das Land hat sich in den letzten 30 Jahren enorm verändert, warum sollten weitere Veränderungen unmöglich sein? Selbst wenn sich am Ende herausstellt, daß eine türkische EU-Mitgliedschaft nicht möglich ist – einen Versuch ist es allemal wert. Für viele Menschen in der Türkei, für die Stabilität im Mittelmeerraum und auf dem Balkan, für das Gewicht des Südens in Europa, für die Integration der nach Westeuropa eingewanderten Türken und für die Menschenrechte in ganz Europa wäre eine EU-Mitgliedschaft der Türkei ein enormer Gewinn. Jürgen Gottschlich

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