: Ein Arbeiter mit Zukunft
Noch vor einem Jahr schien Rudolf Scharping vor allem eines zu sein: ein Verlierer. Und das in einer Partei der Gewinner. Nun ist der Verteidigungsminister einer der beliebtesten Politiker der Republik – und die SPD am Boden ■ Von Bettina Gaus
Pflichtbewusstsein ist für Rudolf Scharping ein hoher Wert. „Aber Sie können mit dieser möglicherweise etwas altmodischen Tugend ja wahrscheinlich nichts anfangen“, vermutet der Verteidigungsminister. Nun ja. Es ist vier Uhr morgens deutscher Zeit, das Flugzeug kämpft auf dem Rückweg vom Treffen der Nato-Verteidigungsminister in Toronto seit über einer Stunde mit Turbulenzen, und wir sprechen über das Wertesystem der deutschen Sozialdemokratie. Aber Scharping hat seine Bemerkung nicht persönlich gemeint. Sie kam spontan und zugleich routiniert, ein jahrelang erprobter Reflex. Nur in Abgrenzung vom Rest der Welt lässt Prinzipientreue sich beschwören.
Rudolf Scharping findet Halt an der eigenen Standfestigkeit. Warum war der Kosovo-Krieg für die rot-grüne Koalition durchzuhalten, fragt er und liefert gleich die Antwort: „Es gab ein klares Ziel. Es wurde verstehbar begründet, es gab ein eindeutiges Verhalten. Ziel, Begründung, Verhalten: So kommt man am besten durch politische Projekte.“ Zufriedenes Lächeln. Falls er solche Sätze gelegentlich auch im Kabinett sagt, dürften ihn die Kollegen lieben.
„Wenig“ würde er im Rückblick auf die letzten Monate anders machen. Allzu emotional sei er während der Nato-Angriffe aufgetreten, allzu selbstgerecht sei der moralische Anspruch gewesen, ungeprüft habe er Meldungen über Greueltaten verbreitet: Das ist Scharping im Kosovo-Krieg selbst von Befürwortern der Luftangriffe angelastet worden. Ihm sind die Vorwürfe unbegreiflich. Alles habe sich bewahrheitet, alles habe gestimmt. Den Begriff „Völkermord“ habe er nur etwas früher als andere benutzt.
Als „Kriegstagebuch“ hat die Welt Auszüge aus einem Buch veröffentlicht, das der Verteidigungsminister geschrieben hat und das nun erscheint. Textprobe: „Auf dem Flug zum Nato-Gipfel in Washington hatten mir Mitarbeiter die Bilder von getöteten Kosovo-Albanern gezeigt, die deutsche OSZE-Beobachter im Januar gemacht hatten. Beim Anschauen der Fotos: Übelkeit. Ist Entsetzen steigerbar?“ Ganz gewiss. Das Betrachten von Bildern ist nicht die höchste Form des Schreckens. Aber Rudolf Scharping kennt keinen anderen Maßstab als den eigenen. Vielleicht wäre der 51-Jährige an den ihm öffentlich zugefügten Verletzungen zerbrochen, hätte er sich diesen Panzer nicht zugelegt. Kein anderer deutscher Spitzenpolitiker hat so viele Demütigungen über sich ergehen lassen müssen wie der ehemalige SPD-Vorsitzende und gescheiterte Kanzlerkandidat. Als strahlende Sieger hatten die alten Rivalen Oskar Lafontaine und Gerhard Schröder das Schlachtfeld verlassen. Sie gaben Scharping der Lächerlichkeit preis, und lange hat außer ihm selbst kaum noch jemand daran geglaubt, dass er je wieder etwas anderes als politische Kärrnerarbeit würde verrichten dürfen.
Aber zuweilen mahlen Gottes Mühlen fein. Nein, noch ist Gerhard Schröder nicht der unbeliebteste Politiker Deutschlands. Schlechtere Werte als der Bundeskanzler bekommen im jüngsten Politbarometer immerhin noch sein Arbeitsminister Walter Riester, der PDS-Fraktionschef Gregor Gysi und Umweltminister Jürgen Trittin. Sonst allerdings niemand. Und: es gibt populäre SPD-Politiker. Spitzenreiter seit Monaten: Rudolf Scharping. Das Leben kann doch schön sein.
Fleiß, Verantwortungsgefühl, Anstand, Verlässlichkeit sind ihm auch von Gegnern stets bescheinigt worden – nicht aber Charisma, Witz, Eleganz. Oberlehrerhaft wurde der einstige Shooting-Star der SPD genannt. Warum bloß ist Rudolf Scharping jetzt auf einmal wieder so beliebt? „Wahrscheinlich wegen derselben Eigenschaften, die zu anderen Zeiten schlecht angekommen sind“, mutmaßt der Minister. „Ich versuche, meinen Job mit klaren Zielen zu machen und die auch zuverlässig anzusteuern.“ Tun andere das nicht? Der Bundeskanzler zum Beispiel?
Über den spricht Rudolf Scharping wenig. Seit einer Aussprache im Februar 1998 sei die Beziehung zwischen ihm und Schröder „bereinigt“, erklärt er lediglich. Sie beide verbinde nun „ein offenes und in der Grundlage klares Arbeitsverhältnis“. Punkt. Ende. Angesichts sonst üblicher Überschwänglichkeiten des politischen Sprachgebrauchs ist diese Charakterisierung beim besten Willen nicht als herzlich zu bezeichnen.
Im Gespräch mit Rudolf Scharping gibt es derzeit keine harmlosen Sätze. Leitartikler unterstellen ihm, den glücklosen Kanzler möglichst bald im Amt beerben zu wollen und den Dolch des Brutus bereits im Gewande zu tragen. Gerhard Schröder hingegen wird nachgesagt, er wolle den allzu populären Verteidigungsminister aus dem Kabinett drängen.
Vor diesem Hintergrund scheint jede Aussage zur doppelbödigen Botschaft zu werden. Welche ist tatsächlich beabsichtigt, welche entspringt purer Lust an der filigranen Interpretation? Man lache gemeinsam über derartige Gerüchte, versichert Scharping. Das zeugt angesichts der für die Koalition bedrohlichen Lage von einem erstaunlichen Sinn für Humor.
Scharping wägt seine Worte vorsichtig, und er kann warten. Lange hat er kein böses Wort über Oskar Lafontaine verloren, der ihn 1995 vom Thron des Parteivorsitzenden gestoßen hatte. Jetzt ist die Schonzeit vorbei. „Was mich gestört hat, war der Versuch von Lafontaine, Leute zu behandeln, als wären sie Figuren auf dem Schachbrett.“
Es war ein derartiger Versuch, der Scharping ins Amt des Verteidigungsministers befördert hat. Er wäre lieber Fraktionsvorsitzender geblieben, aber Lafontaine hat das verhindert. „Er hat mir gesagt, dass er meiner Loyalität nicht sicher ist im Falle der Konflikte, die er vorhergesehen hat.“ Heute findet Rudolf Scharping durchaus Gefallen an dem vormals ungeliebten Posten. Es sei „angenehm, dass man es in der Bundeswehr in aller Regel mit gebildeten und loyalen Leuten zu tun hat“. Anders als in der SPD? „Dazu wollte ich jetzt nichts sagen.“ Der Verteidigungsminister hat gelernt, sich keine Blößen mehr zu geben.
Der Minister gehört zu den heute nicht mehr ganz so zahlreichen sozialdemokratischen Spitzenpolitikern, die an ihrer Partei hängen, und es gelingt ihm, die Herausforderung der Zukunft in einem Satz zusammenzufassen: „Wir müssen in einer Welt enormen Wandels die Idee der Freiheit, die Idee der Gerechtigkeit und der Vorsorge für die Zukunft in eine neue Balance bringen.“ Gelinge das nicht, „dann verstehen die Menschen nicht, was die einzelnen Entscheidungen sollen“. Die müssten aber erkennen können, welche Ziele hinter der Tagespolitik stünden: „Es gibt ja den bösen Satz: Ohne Ziel stimmt jede Richtung.“ Gewiss. Und es gibt keine harmlosen Sätze.
Volker Rühe hat sich als Verteidigungsminister aus anderen tagespolitischen Diskussionen herausgehalten. Sein Nachfolger will sich auch weiterhin einmischen. Das ehrenvolle Angebot, als Nato-Generalsekretär nach Brüssel zu gehen, hat er abgelehnt: „Mittendrin abhauen ist nicht so meine Sache. Nach zehn Monaten zu gehen, hätte sehr nach Flucht ausgesehen“, sagt Scharping im Blick auf die bevorstehende Strukturreform der Bundeswehr und die anhaltenden Auseinandersetzungen über den Wehretat. Erst im Nachsatz räumt er ein: „Ich wäre aus der sozialdemokratischen Politik ausgeschieden. Das wollte ich auch nicht.“
Nicht überall traf Scharpings Entscheidung auf Verständnis. Ein Offizier auf der Hardthöhe, der selbst lange auf Auslandsposten war, sieht darin einen Beleg für die provinzielle Haltung deutscher Politiker: „Kein Brite, Franzose oder Amerikaner käme auf die Idee, er hätte nach einem außenpolitischen Amt innenpolitisch keine Chance mehr.“
Vielleicht ist es gerade diese Bodenständigkeit, die Scharpings Beliebtheitskurve so steil hat ansteigen lassen. „Je tiefgreifender der Wandel, desto größer ist das Bedürfnis nach Sicherheit“, meint er selbst. Sicherheit kann er bieten. Wie kaum ein anderer verfügt er über ein geschlossenes Weltbild, ein festgefügtes Wertesystem. „Wie etwas wirkt, das muss mich interessieren. Aber es darf nicht mein einziger Maßstab sein.“
Rudolf Scharping ist bereits 1994 für ein Engagement der Bundeswehr in Bosnien eingetreten – damals als einer der ersten Sozialdemokraten. An der Rechtmäßigkeit der Nato-Angriffe auf Jugoslawien bestand für ihn niemals ein Zweifel, ebensowenig wie er jetzt auch nur die Möglichkeit in Betracht zieht, der Krieg könne ein Fehler gewesen sein: „Wir haben unsere politischen Ziele erreicht, so weit man sie mit militärischen Maßnahmen erreichen kann.“ Und: „Die Nato ist heute weltweit die effizienteste, verlässlichste Organisation.“ Manche ranghohen Mitglieder des Bündnisses teilen diese Einschätzung nicht. Rudolf Scharping aber sieht sich durch den Gang der Welt wieder einmal in einem seiner Urteile bestätigt.
Er musste wohl an die Richtigkeit der eigenen Einschätzung glauben, wollte er sich von abschätzigen Bewertungen seiner Person nicht zu tief verletzten lassen. Die Erfahrungen der Vergangenheit haben Spuren hinterlassen. Nie wieder unfreiwillig komisch wirken, bloß keinen Fehler machen: Das erscheint heute ein treibendes Motiv seines Handelns.
Er kann in der so mühsam erlernten Kunst der Selbstbeherrschung Erfolge verbuchen. Für 23 Uhr ist in der Bibliothek der Royal York Hotels in Toronto ein Hintergrundgespräch mit der Begleitpresse angesetzt. In Deutschland, wo Scharping am Vortag abgereist ist, ist es jetzt fünf Uhr morgens. Der Minister hat keine Lust mehr zu reden, weder hintergründig noch sonstwie. Aber er kommt, pflichtbewusst, und er setzt sich auch nicht auf den für ihn bestimmten goldumrandeten Polsterstuhl vorne im Raum, sondern mitten zwischen die kleinen Tische der Journalisten.
Volker Rühe hat sich bei solchen Gelegenheiten seine Gesprächspartner ausgesucht. Rudolf Scharping ist für alle ansprechbar. Wer mag, kann nun nach allem fragen, was er wissen will. „Wir machen jetzt nichts Offizielles mehr“, hat der Minister schon beim Betreten des Raumes gesagt. Aber die Stimmung will einfach nicht locker werden. Über eine Stunde bleibt Scharping, und nicht eine Minute lang verliert er die Kontrolle über sich. Manches spricht dafür, dass dieser Mann erreicht, was er sich vorgenommen hat.
Er hat sich noch viel vorgenommen. Derzeit kämpft er an vorderster Front für ein neues Grundsatzprogramm der SPD. Wieder einmal stößt er dabei auf Widerstand in den eigenen Reihen, aber der kann ihn nicht mehr schrecken. So entspannt und ausgeglichen wie jetzt habe er sich seit Jahren nicht gefühlt, versichert der Minister. Er breitet die Arme aus und lacht, ganz gelöst. „Mir geht's gut.“ Ganz offensichtlich.
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