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Der Presseball des Kleinbürgers

Zwölftausend kommen pro Abend ins Velodrom. Das Berliner Sechstagerennen ist ausverkauft. Rausgeputzt wie zur Silberhochzeit in der zweiten Ehe treten die Zuschauer aufs Parkett. Statt Kette und Krawatte tragen sie Pfeifen um den Hals. Im Rundendelirium holen sie sich ihr kleines Quäntchen Glück

Der Schweiß der Fahrer salzt Kaviar, ihr Körpergeruch zieht im Fahrtwind vorbeiDas Publikum ist im Momentfieber. „Wir wollen Berlin spüren!“ ruft der Sprecher.

von WALTRAUD SCHWAB

Ein Abend könne komplex beginnen und einfach aufhören. Derart beschreibt einer, der von sich selbst sagt, dass er das „Berlinerische“ von der Pike auf gelernt habe, warum er zum Sechstagerennen ins Velodrom an der Landsberger Allee gekommen ist. Er sagt es nicht auf Hochdeutsch, sondern so, dass genug Platz zum Nachdenken bleibt: „Det is die ‚Komplexivität‘, die am Anfang is und an d’ Ende steht, det et mir jut jejangen is.“

Der Mann, der sich Kalle Schalewski nennt, war so freundlich, seine Begeisterung für das Ereignis zu beschreiben, und dies, noch bevor er sich im Gewühl einen Überblick verschafft hat. Er sagt es gleich hinter der Einlasskontrolle, dort, wo Blasmusikkapelle und lebende Plüschfiguren von Mineralölkonzernen und Baumärkten sich drängeln, wo Ordner im schwarzen Anzug und aufblasbare, raumhohe Bierdosen Orientierungshilfen bieten und wo der blanke Beton der Foyerwände und niedrige Decken den Blick verstellen. Erwartung und Ernüchterung prallen für eine Sekunde aufeinander. „Komm weg hier“, sagt der Kalle Genannte, der gut und gerne 70 Jahre auf dem Buckel hat, zu seiner blondierten Partnerin. Das Entrée in die Arena hebt niemand hier, vor allem nicht die Berliner und Berlinerinnen.

Trotzdem kommen sie. Fast zwölftausend am Abend. Das Sechstagerennen ist ausverkauft. Rausgeputzt wie zur silbernen Hochzeit in der zweiten Ehe treten die Zuschauer, die später die Ränge bevölkern werden, aufs Parkett. Nicht im Familienverbund, sondern mit Freunden. Frauen in Glitzerpullovern, in Blusen mit paillettenbestickten Manschetten, in engen Anzügen und Absatzschuhen. Männer in Cordhosen und Lederwesten, mit Rollkragen unterm Jackett, in Karohemden und Jeans. Anstatt Krawatte und Kette tragen sie Trillerpfeifen um den Hals. Die brauchen sie für den vierfachen Pfiff beim „Sportpalastwalzer“. Ohrenbetäubend, rasant, schrill und sinnstiftend ist der. Er liegt in der Luft, selbst wenn er gar nicht gespielt wird.

Das Sechstagerennen ist der Presseball des Berliner Kleinbürgers. „So viel Milieus gibt es hier“, sagt einer anerkennend, „sechs oder sieben bestimmt.“ Welche? Das liegt für ihn auf der Hand. Er gestikuliert nach allen Seiten und zur Mitte des Velodroms. Dort, wo sonst die Arena ist, sitzen heute jene Leute, deren Selbstreflexion oberhalb der Wichtigkeitsgrenze beginnt. Im offenen Restaurant mit Blumendekoration und roten Tischleuchten schauen sie auf, wenn die Fahrer an ihnen vorbeiziehen. Hier wird Anstrengung delektiert und Degoutantes goutiert. Ein Fahrer ist Arbeiter. Held nur, wenn er siegt. Sein fliegender Schweiß salzt Beluga-Eier und Trüffelkrevetten, sein Körpergeruch zieht mit dem Fahrtwind vorbei.

Weil jedes VIP-Terrain auch sein Vorzimmer hat, gibt es in der Arena fürs Fußvolk die Stehbar. Geschäftemachen ist der Einstieg zum Aufstieg. Deshalb hängen die Köpfe der anwesenden Männer hier auf Vertraulichkeitshöhe beisammen, während junge Blondinen deren Seiten flankieren. Das Treiben der Athleten interessiert kaum, denn an diesem Ort wird Zukunft gemacht. „We are the champions“, kommt über Lautsprecher, weil ein Sieger seine Ehrenrunde fährt. Den Blumenstrauß, „von reizenden ‚Hostessinnen‘ überreicht“, wirft er in die Zuschauerränge. Dorthin, wo die Seele des Spektakels sitzt.

Das Berliner Publikum sei das beste weltweit, lassen Fahrer gerne wissen. Auch der Sixdays- Sprecher, „der alte Hase Herbert Watterott“, versäumt nicht, es immer wieder zu sagen. Die Hauptstädter hören es gern, obwohl bei der Eröffnung des Abends noch keine Volksfesteuphorie, sondern Contenance und Konzentration herrschen. Die schon etwas steifen Rücken werden im Rhythmus der vorbeiziehenden Fahrer jedoch schnell weich, weil mit der Beschleunigung der Fahrer der Pulsschlag steigt und mit dem Überqueren der Ziellinie die Entspannung. Das Rundendelirium ist metaphysische Gymnastik. Dazu gibt es Bier, Jägermeister und Brezeln. Dauerbrenner, die das Gutfühl-Gefühl der Masse mit anheizen.

Unten auf dem Parcours drehen die 18 Zweiermannschaften ihre Bahnen. Ziel und Start ist eins. Das Feld ist Jäger und Gejagter. Mal scheidet der Langsamste aus. Mal gewinnt der Schnellste. Immer gilt: „Rundengewinn geht vor Punktgewinn.“ Wertungssprints, Mannschaftsausscheidung, Derny-Lauf, Preis der Steher. Hier werden Sieger gemacht. Die Verlierer von vorher sind die Gewinner von jetzt. Nicht Aggression, Sportsgeist gilt. Der Ausgepowerte gibt der Ablösung seinen letzten Schwung, der Verlierer schiebt den, gegen den er ausschied, mit Wucht wieder ins vordere Feld. Und immer wieder werfen die Sieger ihre Blumen ins Publikum. Geste, Geschenk, Handkuss. Die Zuschauer und Zuschauerinnen danken es mit Begeisterung. Ein Bahnrekord wird aufgestellt: 250 Meter in 12,78 Sekunden. Sören Lausberg heißt der „Berliner Recke“. Die Stimmung weicht auf, der vierfache Pfiff heizt an, der DJ legt „Sexbomb, Sexbomb“ auf, Körper beginnen sich zu strecken, Hände fliegen in die Luft, die Ausreißer werden vom Feld eingeholt, der im grünen Trikot versucht es wieder, schafft es, gewinnt eine Runde und dann auch noch den Endspurt. Das Publikum ist im Momentfieber. Adrenalin und Glückshormon sind ausgeschüttet. Wie Schokolade und Panik in einem. „Wir wollen Berlin spüren!“ ruft der Stadionsprecher. „Wahnsinn!“, sagt der Mann, der vorher wie ein Stein dasaß. Alle sind aufgesprungen. Das Sechstagerennen hebt die Bande in den Mittelpunkt. Perfekt geformt aus sibirischer Fichte ist „das Lattenoval“. Der Neigungswinkel hat im Scheitelpunkt 44 Grad. „Eine der schnellsten Winterbahnen der Welt!“, schreit Watterott ins Mikrofon. Sie trennt VIPs und Athleten von den Fans im weltlichen Olymp. Die Helden sind unerreichbar, obwohl offene Blicke in ihre Kojen erlaubt sind. Wie kleine Buben lassen die Rennfahrer ihre Körper von den Betreuern abtrocknen, strecken ihnen ihre Arme entgegen, wenn ihnen ein frisches Hemd angezogen wird. Zuneigung, Vertrauen, Männerwelt mit blassem, homoerotischem Touch. Eingefleischte Fans im Block gegenüber der Kojen wissen darum. Aber sie werden verraten, flirtet einer der Kerle doch mit einer „Miss Berlin“ in der Pause.

Früher mussten die Sportler 21 Stunden ununterbrochen auf dem Drahtesel sitzen, Zuschauer tagelang ausharren, um am Ende verschwitzt und erschöpft das Glück des Vergessens zu spüren. Heute ist das Sechstagerennen Sport, Show, Kommerz und Konsum. Den Höhepunkt der Seligkeit erreichten die Ostberliner, deren Radsportbegeisterung die Renaissance des Sechtstagerennens zu verdanken ist, bei der „Langen Nacht“ als „Die Puhdys“ auftraten. „Das ist innerlich, das kann ich nicht erklären“, sagt eine Frau, die es bei den alten Songs nicht mehr auf dem Platz hält. „Wenn er mich kurze Zeit liebt“, grölt „Maschine“, der Sänger der Band. „Verstehen Sie, das ist mein Leben“, sagt die Frau, während der Mann hinter ihr etwas zu lange seine Hand auf ihren Schultern lässt. Zu „Wir haben die Eisbären so gern“ werden Ferngläser durch die Reihen gereicht, um die Arena beobachten zu können, die sich in einen Musikpalast verwandelt, wo Klassengesellschaft überwunden ist.

VIPs und Möchtegerne zeigen ihre wahre Herkunft. Sie tanzen, toben, strecken der Band ihre leeren Arme entgegen. Bei „Geh zu ihr und lasse deine Drachen steigen“ erinnern sich einige daran, dass sie während dieses Liedes ihre Unschuld verloren haben. „Das war nicht nur Musik, das ist Kult!“, ruft der Stadionsprecher und treibt zu den nächsten Höhepunkten, die wie im Nachrausch mitgenommen werden. Die Krönung: minutenlanges Stehen der Rennfahrer beim Sprint. Wie Hochseilakrobaten balancieren sie auf ihren Fahrrädern im Stand. Jeder hofft, dass der andere zuerst das Gleichgewicht verliert und zum Schrittmacher wird. Das Publikum ist aufgesprungen und hält den Atem an, wo nichts geschieht. „Es hat etwas mit Liebe zu tun“, sagt eine Zuschauerin. „Dass Glücklichwerden so erschöpfen kann!“

Dann werden die Berliner müde. Die Ränge leeren sich. „Berlin ist ein Scheißkaff!“, schreit einer, der weiß, dass die Wirkung jeder Droge einmal nachlässt.

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