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deutsche ängsteDie Furcht vor dem Unbekannten und unsere Sorgen um die Iraker

Die unfairen Vorwürfe eines Moralisten am Vorabend des Krieges

Und Sie haben Angst vor dem Krieg? Sie haben wegen der armen Menschen im Irak Angst, sagen Sie. Das ist ganz schön scheinheilig, wissen Sie das? Denn Sie sagen nicht die Wahrheit. Das weiß sogar ihr Kohlenlieferant – aber dazu gleich noch mal.

Klar, Sie waren auf der großen Friedensdemonstration und finden diesen selbstherrlichen Präsidenten George W. Bush ganz schrecklich und spenden Geld für Kriegsopfer. Aber Angst um die Iraker haben Sie nicht. Angst ist nämlich was anderes. Was Sie fühlen, ist Furcht, denn die haben Menschen vor dem Unbekannten. Sie fürchten sich vor durchgeknallten Terroristen, die Sie mit Pocken infizieren oder auf dem nächsten Multikultifest eine Bombe hochgehen lassen. Sie fürchten sich vor dem, was kommt, wenn die erste stählerne Todeswelle über Bagdad geschwappt ist. Jedoch Angst haben Sie keine. Angst haben die Menschen vor dem Bekannten. Vor dem Zahnarzt zum Beispiel oder der Tetanusspritze.

Aber Sie sitzen in der U-Bahn und tun so betroffen, wenn auf diesem Bildschirm, der an der Wagondecke hängt, die neuesten Meldungen erscheinen. Gestern stand da: „Irak: Heute ist der Tag der Entscheidung.“ Und nachdem Sie den Verkäufer der Obdachlosenzeitung baten, zur Seite zu treten, um die Irak-Krisen-Meldungen lesen zu können, da schüttelten Sie – betroffen – den Kopf. Wie herablassend behandelt doch dieser Bush den Rest der Welt. Unglaublich.

Betroffen waren Sie ja auch 1991, beim ersten USA-Irak-Krieg. Da deckten Sie sich beim Discounter mit Konserven ein und verspürten den Thrill des nahenden Krieges. Den Karneval ließen Sie damals ausfallen. In den Kriegen zuvor haben Sie gefeiert. Und während des Jugoslawienkrieges feierten Sie ja auch. Denn Sie fürchteten sich nicht. Sie wussten, dass es Konflikte waren, die sie nicht berühren werden. Es gab keine Terror-Furcht und keine Killer-Viren.

Natürlich waren Sie bestürzt über die Grausamkeiten, so wie Sie es auch sind über die Toten in Kolumbien, die Opfer auf den Philippinen, die Verhungernden in Südkorea. Aber vergangenen Sonntag gingen Sie zum Gottesdienst. Um für den Frieden im Irak zu beten. Aber insgeheim vor allem für sich selbst.

Sie sagen, Sie spüren, dass durch diesen Krieg auch mit uns irgendetwas Schreckliches geschehen wird und rufen beim Telefonseelsorger an, um sich die Last von der Seele zu sprechen. Und selbst ihren Kohlenlieferanten verwickelten Sie gestern in ein Gespräch über den Nahen Osten, weil Sie sich erinnern, dass der große Soziologe Max Weber mal sagte, wenn man sich vernünftig über Politik unterhalten wolle, dann solle man dies mit dem Kohlenhändler tun. Sie sagten zu ihm, Sie hätten Angst um die Kinder im Irak.

Doch der Lieferant beschwerte sich später über Sie, weil Sie zwar die Welt retten wollten, aber ihm kein Trinkgeld gaben. Auch er wusste, Sie sind scheinheilig. SEAD HUSIC

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