: Jede Stadt hat die Polizei, die sie verdient
Im mecklenburgischen Wolgast wird gegen die Polizei ermittelt. Vorwurf: Statt eine Schlägerei zu beenden, habe sie sich versteckt. Doch Feigheit und Gleichgültigkeit zeigen sich nicht nur in Uniform ■ Aus Wolgast Bascha Mika
Zucht und Ordnung sind hin, keiner fühlt sich heute mehr sicher, und bei Erich, bei Erich hätt's das nicht gegeben.
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Auf dem Thälmannplatz in Wolgast sind die Häuser hübsch renoviert, da kosten die Wohnungen so einiges. Am Abend des 11. Juli kommt ein Kurzgeschorener aus der „Schlemmerstube“ marschiert, sprintet einem Radfahrer entgegen, stoppt ihn, zwei, drei Sätze, dann kriegt der mit dem Fahrrad zum erstenmal eine gelangt. Noch'n Stoß und noch einer. Ein zweiter Glatzkopf schiebt sich aus der Tür der Schlemmerstube, Andreas J., genannt Gandhi, ein Bulle mit Stiefeln und Bierkrug. Den haut er dem Radfahrer voll ins Gesicht, Knochen splittern, der Mann geht zu Boden, der Bierkrug bleibt heil.
Oben am Fenster steht ein Zeuge. Polizei! Er ruft die 110 an, da geht niemand dran. Dann die 112. „Hier wird jemand ganz brutal zusammengeschlagen. Thälmannplatz 5, vor der Kneipe.“
Gandhi und sein Kumpel scheuchen ihr Opfer ein bißchen. Das rennt in die Schlemmerstube. „Raus!“ brüllt der Wirt. „Nich hier drinne!“ Sechs Männer sitzen im Gastraum, haben hier so manches Bierchen mit dem Geprügelten gezischt, jetzt hocken sie da, feixen.
Zurück auf dem Bürgersteig. Schläge, Tritte. „Hört auf! Hört auf!“ schreit der mißhandelte Mann. Eine weitere Anwohnerin alarmiert die Polizei: „Schnell, Thälmannplatz 5.“ Vom Lokal gegenüber, Restaurant „Stadt Wolgast“, kommt der Kellner angerannt und versucht dazwischenzugehen. Als einziger. Immer noch keine Polizei zur Stelle. Die ist zwar inzwischen angerückt – doch der Streifenwagen steht auf der Rückseite der Häuserzeile, sozusagen am Hinterausgang von Nr. 5. Mindestes drei AnwohnerInnen sehen die Polizisten da hinten, während vorn am Platz einer langsam zu Brei geschlagen wird.
Der Geprügelte hat sich noch einmal hochgerafft, läuft weg, schafft einige hundert Meter bis zu einem Garagengelände. Dann haben ihn Gandhi und sein Kumpan eingeholt. Sie geben ihm den Rest. Wozu hat man Stiefel? Als die Polizei schließlich ankommt, trifft sie auf die Schläger, auf einige stumm stierende Neugierige, die sich sofort verdrücken, und auf eine Leiche. Boris Morawek ist tot. Angeblich hat sich in seinem Kopf ein Blutgerinnsel gelöst.
Gandhi und sein Komplize werden festgenommen. Eigentlich hätte Ghandi seit August 1995 im Knast sitzen sollen. Seine dreijährige Bewährungsstrafe war aufgehoben worde. Doch niemand hat dafür gesorgt, daß er die Haftzeit auch antritt.
Sieben Augenzeugen gibt es für den Beginn der Prügelei am Thälmannplatz. Doch für den Totschlag vor den Garagen meldete sich kein einziger, um bei der Polizei auszusagen. Bloß nicht reinziehen lassen, sonst kriegt man selbst noch eins in die Schnauze.
Gegen den Wirt der Schlemmerstube läuft eine Anzeige wegen unterlassener Hilfeleistung. Gegen die Wolgaster Polizei ermittelt die Staatsanwaltschaft Stralsund wegen Strafvereitelung im Amt, und das Innenministerium von Mecklenburg-Vorpommern prüft, ob die Beamten gegen die Dienstordnung verstoßen haben. Die müssen schließlich Courage zeigen, wo es andere nicht tun.
In den letzten drei Wochen haben sich Wolgaster Polizisten gleich zweimal Verfahren eingehandelt. Den ersten Anlaß hatte eine Gruppe rechter Jungmänner geliefert; sie hatte öffentlich geprahlt, Stadt und Polizei fest im Griff zu haben.
„Die Polizei?“ Der Wirt der Schlemmerstube grinst höhnisch. „Das sind doch lächerliche Figuren, sind doch das. So groß“ – verächtlich hebt er die Hand bis zur Schulter – „und fünfzig Kilo schwer. Was soll denn so einer? Hat seinen Knüppel doch nur zur Zierde.“ Früher, da habe ja jeder Respekt gehabt. Zucht! Ordnung! Heute hätten die Leute Angst in der Stadt, jawoll, Angst. Abends gehe niemand mehr auf die Straße und leer seien die Kneipen. „Bei Erich hätt's das nich gegeben. Und nach so einem Skin-Überfall müßte man vier Mann sofort aufhängen und den Rest zusammenschlagen“, bellt der ehemalige Jugendclubleiter, „dann wär' Ruhe!“ Als würd' er's, trotz der Speckschicht auf seinen Muskelpaketen, am liebsten gleich selbst erledigen. Markige Sprüche für einen, der nur Angst um seinen eigenen Stall hatte, als Boris Morawek totgeprügelt wurde.
„Die Polizei?“ Der Kellner im „Restaurant Wolgast“ lächelt bitter. Vor drei Jahren ist er überfallen worden; drei Zähne ausgeschlagen, ein Halswirbel ausgerenkt. „Kam mir sehr allein gelassen vor. Als Opfer fühlt man sich auch von der Polizei so richtig in den Arsch geprellt.“ Die Rechten würden die Beamten doch alle kennen, würden sie sogar mit Spitznamen anreden und wüßten, wo einige von denen wohnten. „Brauchen doch nur mal mit zehn Mann bei einem Bullen vor der Tür zu stehen, dann ist Pumpe.“
Rund um den Thälmannplatz, in diesem rausgesputzten Stück Wolgast, ist das Verhältnis zur Ordnungsmacht schwer gestört. Jede Menge Geschichten erzählen die Anwohner. Von den Glatzen, die immer wieder „Sieg Heil!“ übern Platz grölten – nie würde die Polizei deswegen auftauchen. Von den Skins, die eine Holzbank auseinandernahmen und sich mit den Latten bewaffneten – eine Streife sei zwar gekommen, aber nur vorbeigefahren. Von den zwanzig Glatzen, die zehn Polizisten gegenüberstanden und mit ihnen Katz und Maus spielten, ihnen die Mützen klauten, gegen die Streifenwagen traten...
Jeder hier kennt diese Geschichten. Jeder glaubt sie – das reicht fürs Gefühl. „Die kommen doch gar nicht erst, wenn man sie ruft“, ist sich die Gemüsefrau sicher, „oder sie machen sich schnell wieder dünne.“ – „Warum sollen sie für das bißchen Geld ihr Leben riskieren?“ fragt das Mädel im Sonnenstudio. „Sicher fühlt sich doch heutzutage keiner mehr“, sagt die Fleischerfrau, „aber dafür kann man nicht allein der Polizei die Schuld geben.“ – „Auch wenn ich was mitkrieg'“, mault eine Kundin, „dann weiß ich nix, seh' ich nix, hör' ich nix.“
So hat offenbar jede Stadt die Polizei, die sie verdient.
Der Dienstbezirk der Polizeiinspektion Wolgast reicht von der polnischen Grenze in Ahlbeck bis zum Greifswalder Bodden. 120 Beamte, ein Leiter. Rolf Geißenhöner, seit 28 Jahren im Dienst.
„Die Polizei?“ Geißenhöner windet sich. „Na, ja, ihr Ruf ist durchwachsen.“ Aber dann meldet er stolz: richtige Einstellung bei den allermeisten Beamten vorhanden; gut geschult, prima ausgerüstet; wenn Bevölkerung aktiv mitarbeitet, wird Aufklärung gesteigert; höchste Aufklärungsquote...
Kumpanei mit Rechten? „Schwachsinn!“ Sich von ihnen duzen lassen? „Um Himmels willen!“ Immer lauter wird Geißenhöner, immer stärker dringt der Kasernenhofton durch. Der Mann steht ganz schön unter Strom.
Zu der Schlägerei am Thälmannplatz darf er nichts sagen. Also bleibt er im Allgemeinen und Nebulösen. „Wenn der genaue Tatort nicht genannt wird oder sich der Ereignisort verlagert..., Beamte bekommen neue Informationen, fahren hin, dann ist es schon wieder irgendwo anders...“ So mag es manchmal passieren. Beim Thälmannplatz aber nicht. Mindestens zwei Anwohner, die die Polizei alarmierten, haben nicht nur die genaue Adresse genannt, sondern auch noch die „Schlemmerstube“ erwähnt. Das läßt sich beweisen; jeder Notruf wird auf Tonband gespeichert.
Wer will es so genau wissen? Einer der Zeugen vom Thälmannplatz hat sich bei der Polizei gemeldet – er wurde aber nie vernommen. Um die Schlägerei aufzuklären, ist er nicht so wichtig, da gibt es genügend andere, die aussagen können. Doch dieser Zeuge ist ausgerechnet einer der drei Anwohner, die den Streifenwagen der Polizei hinter dem Haus haben stehen sehen. Interessiert das wen?
Was Geißenhöner interessiert, heißt „Abschreckung“. Das helfe gegen die freie deutsche Jugend und den Frust der Polizisten. Würde man Mehrfachtäter gleich in Untersuchungshaft stecken, gingen die Straftaten um 30 Prozent zurück. Garantiert! Und den Beamten würde ein zermürbendes Ritual erspart: jemanden auf frischer Tat zu ertappen, festzunehmen, jede Menge Schreibkram zu erledigen und dann – den Verdächtigen laufenzulassen. Geißenhöner ruft nach Spezialeinrichtungen für Jugendliche, „wo die normalisiert werden“. Das klingt wie die alte Sehnsucht nach dem „Jugendwerkhof“, der Zuchtanstalt der Realsozialisten.
„Die Polizei?“ Bürgermeister Jürgen Kanehl gibt sich fürsorglich. „Die Polizei ist nicht das Problem.“ Die Beamten würden doch nur verheizt: geringe Bezüge, Beförderungsstau und immer mehr Aufgaben. In Wolgast habe kein Bürger Angst. Und wenn doch, sei sie „künstlich erzeugt“. Das Stadtoberhaupt grübelt über seine 16.000 Mitbürger nach. Über deren Bedienungsmentalität, über jene, die alles haben, doch nichts riskieren wollten, über Beschwerden, die bevorzugt anonym eingingen, und über Zeugen, die man nach einer Straftat mühsam suchen müsse. Was solle man machen ohne Zivilcourage? Dem Bürgermeister ist mulmig: „Ich hab' Angst, daß die Gewalt eskaliert.“
Und das hätte es bei Erich so nicht gegeben.
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