: Stadtvillen einmal anders
Hans Kollhoff hat abstrakte Form und greifbares Material zu einem urbanen Zuhause verwoben. Teil II der Serie „Wie gewohnt?“■ Von H. W. Hoffmann
Stadt ist schnell. Es ist unklar, wie sie in zehn Jahren aussehen wird. Architektur ist langsam. Sie bindet Kapital und Bewohner über Jahrzehnte. Wie also bauen, um nicht schon morgen von gestern zu sein? Wie dem Bewohner inmitten des Wandels jene Sicherheit geben, die er für ein Zuhause braucht? Nicht weniger dringlich als im Kranwald von Berlin-Mitte stellt sich diese Frage an der Peripherie.
Ein Beispiel unter vielen ist Hohenschönhausen. Wo sich Malchower Weg und Hansastraße kreuzen, kursieren zahllose Pläne. Die Zukunft des Niemandslands zwischen Großtafel, Schrebergarten und Gewerbebrache ist ungewiß. Entsteht ein Vorort, in dem die Leute schon zufrieden sind, dort einfach zu wohnen? Katapultieren Shoppingcenter, Geschoßwohnungsbauten und Baumärkte ihn zum „städtischen Zentrum“? Oder bleibt er eine Restfläche ohne eigene Identität?
1991 erhielt der Berliner Architekt Hans Kollhoff den Auftrag, am Malchower Weg 128 Wohnungen zu bauen. Seine Antwort auf die Unwägbarkeiten war eine absolute Form: Die kleinste Einheit ist ein Quader, so breit wie hoch, vier Geschosse mit je zwei Wohnungen. Sechzehn dieser schlichten Baukörper hat er freistehend auf dem nahezu quadratischen Grundstück plaziert. Eine Wohnstraße teilt es in zwei gleich große Rechtecke. Je zwei der schlichten Quader stehen an jeder Kante. Auf den ersten Blick hat die Anlage wenig besonderes: Inmitten des Einfamilienhaus-Teppichs ist die Ansammlung von Villen keineswegs ein Fremdkörper. Doch das ist nur eine mögliche Lesart.
Auf den zweiten Blick kippt das Bild. Die Villen rücken zusammen. Ihre Schmalseiten kommen sich näher, als es die Bauordnung erlaubt. Die weit ausladenden Dächer scheinen sich berühren zu wollen. Ein Sockel bindet die Häuser aneinander. Der dunkle Backstein verschmilzt sie zu einer Einheit. Aus der Ansammlung von Einzelhäusern wird ein Block von nahezu städtischer Dichte. Die Villen werden zu Bausteinen einer Stadt. Wo die Fertighäuser der Nachbarschaft durchweg in die Mitte des Grundstücks gesetzt sind und sich gegenüber Straße, Landschaft und Nachbarschaft gleichermaßen indifferent verhalten, rücken Kollhoffs Villen entschieden an die Straße. Adresse und Entree des Hauses sind identisch. Die Mitte bleibt frei für zwei Höfe. Spielplatz und Birkenhain sind das Zentrum der Anlage und ihrer Bewohner. Jeder Schritt eröffnet neue Raumeindrücke: „Haus“, „Straße“ und „Hof“ – die Grundbausteine einer Stadt – bilden ein luftiges Ganzes. Das für die Vorstadt typische Weder-Noch von urbaner Dichte und Häuschen im Grünen scheint hier überwunden. Die abstrakte Form gibt diesen „Stadtvillen“ ein doppeltes Gesicht. Während man sich jene zahllosen Immobilien, die sich sonst als „Stadtvillen“ anpreisen, lieber nicht außerhalb ihrer suburbanen Idyllen vorstellen möchte, wird diese Anlage, zumindest ästhetisch, auch dann bestehen können, wenn der Siedlungsbrei durch die Bausteine der angekündigten Ortsmitte ersetzt sein wird.
So absolut und festgefügt die Form auf den ersten Blick scheint, so offen ist sie doch für den möglichen Wandel. Ohne sich selbst zu verändern, paßt sie sich jeder neuen Lebenswendung an. Sie bietet ihrem Bewohner die Dauerhaftigkeit, die er für sein Zuhause braucht, und fordert von ihm zugleich permanente Neuinterpretation. Dieser Ansatz stellt hohe Ansprüche an Architekten und Nutzer. Leicht gerät er in Gefahr, zu Formalismus zu erstarren. Ein Beispiel ist das eigentliche Reich des Mieters: die Wohnung.
Wie das Fassadenraster erahnen ließ, besteht der Grundriß der Häuser aus zehn fast identischen Einheiten, rechteckige Raumzellen von rund drei mal viereinhalb Metern. In der mittleren kommt das Treppenhaus unter. Der Rest verteilt sich auf je eine Drei- und Vierzimmerwohnung. An der nach Süden orientierten Ecke sind zwei Einheiten zum Wohnzimmer mit Wintergarten zusammengefaßt, die zweite Ecke macht eine freigestellte Küchenzeile zum Koch- und Eßzimmer. Es ist ein ganz ähnliches Konzept gleichberechtigter Räume, das Altbauten so beliebt macht. Jene erweisen sich gerade für Wohngemeinschaften mit häufig wechselnden Bewohnern als äußerst flexibel. Dort ist jedes Zimmer groß genug, um es als selbständige Einheit nutzen zu können, und selbst bei knapper Grundfläche vermitteln die hohen Decken das Gefühl von Großzügigkeit. Am Malchower Weg aber will sich davon wenig einstellen. Für ein ausgewachsenes Zimmer sind die kaum 15 Quadratmeter schon ohne Möbel zu klein. Bei 2,60 Meter stößt die Deckenhöhe bereits an ihre Grenzen. Mit jeder Wand scheint die Wohnung kleiner zu werden. Das beste Beispiel ist die Wand, die den Wintergarten vom Wohnzimmer trennt. Die schmalen, geschoßhohen französischen Fenster können für gute Belichtung sorgen, die Raumzellen aufweiten. Die luftige Großzügigkeit, welche die Anlage nach außen schafft, nach innen holen können sie nicht. Viele Mieter nutzen die Wände als „Stellfläche“. Aus dem Platz für Menschen wird Platz für Möbel. Da ist selbst bei nominell 70 Quadratmetern schnell jeder Freiraum beseitigt. Schuld an dem Mangel an Großzügigkeit sind nicht nur die Richtgrößen des staatlich geförderten Wohnungsbaus, die Bauordnung oder Wirtschaftlichkeitsberechnungen – auch das formale Gerüst ist zu eng, um flexibel genutzt zu werden.
Solche Schwierigkeiten zeigen, daß eine absolute Form allein ein abstraktes Gebilde bleibt. Damit eine Idee außerhalb des Architektenkopfs bestehen kann, damit sie auch für den Bewohner Wirklichkeit wird, braucht sie ein Material. Und das ist am Malchower Weg alles andere als abstrakt. Wie schon bei seinen früheren Wohnprojekten setzt Hans Kollhoff auf natürliche Baustoffe und deren handwerkliche Verarbeitung. Wichtigster Baustein ist der unregelmäßige Wittmunder Torfbrandklinker, auf dem Licht und Schatten ein reiches Farbspiel entfachen. Aufgelockert wird die kompakte Masse durch schmale Betonstreifen, mit denen die Geschoßdecken in der Fassade sichtbar bleiben, und durch die Fenster aus unbehandeltem Zedernholz. Hinter der gut drei Meter hohen, zweiflügeligen Eichenholztür öffnen sich Treppenhäuser mit Handläufen und Sockelleisten aus Holz. Eichenparkett und Terrakottaboden heben die Wohnungen weit über den sonst im geförderten Wohnungsbau üblichen Standard.
Oberflächlich betrachtet erscheinen diese Materialien als Gegensatz zur abstrakten Form. Bei näherem Hinsehen sind sie jedoch sich bedingende Bausteine der Idee eines ebenso beständigen wie offenen Zuhauses. Während die Form absolut und damit zeitlos ist, ist das Material real und immer präsent. Es ist da, bevor der erste Mieter einzieht. Wo Fassaden, bei denen man schlampiges Mauerwerk erst mit Styropor beklebt, um es dann unter Rauhputz verschwinden zu lassen, kaum mehr sind als neutralweißer Hintergrund, der schon bald Schmutz und Graffitis anzieht, gibt der Klinker Auskunft, wie das Haus entstand. An den Ziegeln bleibt ablesbar, wie der Maurer einst Stein auf Stein setzte.
Das Material hat eine Vorgeschichte, offeriert sie dem neuen Bewohner, solange er noch keine eigene hat. Und es hat die Fähigkeit, in Würde zu altern. Die unbehandelten Fenster setzen eine Patina an, versilbern sich, machen die Zeit sichtbar. So macht das Haus seine Vergangenheit und die seiner Bewohner begreifbar und bleibt doch immer gegenwärtig.
Teil III am 5. Oktober: Wohnen im Eigenheim
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