: Laut protestieren und im stillen rechnen
Die Sonderschichten bei Mercedes in Untertürkheim hat der Betriebsrat abgesagt, doch die Arbeiter bräuchten das zusätzliche Geld. Gerade jetzt. In die Wut über den Bruch des Tarifvertrags mischt sich viel Angst um die eigene Zukunft ■ Aus Mettingen Sven Eggenstein
Peter Altschmidt hat einen mobilen Imbißstand, so einen roten VW-Bus. Aus dem heraus verkauft er Bratwürste und heiße Rote für vier Mark, Riesenbrezeln für drei Mark. Mit seinem Imbißstand, sagt Altschmidt, fährt er „überall hin, wo was los ist“. Er steht hundert Meter weg vom Tor1 der Mercedes-Gießerei in Mettingen.
Im Werk haben gerade 2.000 Mercedes-Arbeiter die Arbeit niedergelegt. Ein großer Teil von ihnen steht vor dem Tor. Die Männer in den blauen Latzhosen mit Schmierölflecken, den schweren Schuhen mit den Stahlkappen demonstrieren dagegen, daß sie, wenn sie krank werden, in Zukunft nur noch 80 Prozent ihres Lohns bekommen oder Urlaubstage als Ersatz opfern sollen.
„Das sind Karenztage durch die Hintertür“
Peter Altschmidt wendet die Würste auf dem Grill. „Seit sieben oder acht Jahren fahre ich zu Demos, immer wenn die Gewerkschaften dazu aufrufen.“ Zu der Demo hier hat die IG Metall aufgerufen, und Peter Altschmidt ist sauer: „Ich hab' jetzt vier Würste verkauft, vier! Hat es noch nie gegeben. Da kommt diesmal nicht mal das Benzingeld rein. Absolut mau hier, absolut.“
Als Helmut Lense, der Mercedes-Betriebsratsvorsitzende des Standortes Stuttgart, zu dem das Werk im Esslinger Stadtteil Mettingen gehört, ins Megaphon sagt: „Mercedes bricht mit der Lohnkürzung bei Krankheit den geltenden Tarifvertrag. Das ist eine Schande, die sollten sich schämen“, klatschen viele. Als er sie auffordert, am Samstag nicht zu der vereinbarten Sonderschicht anzutreten, ist der Beifall der Männer nicht ganz so laut.
Peter Altschmidt verkauft eine fünfte Wurst. Kurz darauf fängt er einen Streit mit den zwei Mercedes-Arbeitern an, denen er Wurst sechs und sieben verkauft. Die sind der Meinung, die Veranstaltung sei nicht mau, hier gehe es schließlich um was. Die Leute seien echt sauer. Und die Sonderschicht am Samstag, also heute, werde wohl ins Wasser fallen. „Darauf würde ich nicht wetten“, sagt Altschmidt.
Und tatsächlich sagen einige der Arbeiter, sie seien da noch unsicher. „Ich muß arbeiten, ich hab' drei Kinder.“ Ein anderer: „Es gibt viele, die haben gebaut und müssen abzahlen. Die Sonderschicht hat doch jeder eingeplant.“
Auf die Frage, wann sie zuletzt krank waren, antworten gleich 20 mit Sätzen wie: Ist schon lang her. Kann ich mich nicht dran erinnern. Oder: Ich war noch nie krank. Heutzutage ist man besser nicht mehr krank. Und wenn doch, dann nur kurz, das steckt man weg. Einen traf es kürzlich drei Tage, „nicht der Rede wert“. 150 Mark weniger wären das bei 80prozentiger Lohnfortzahlung, hat er ausgerechnet; und wenn's länger dauerte, würde er Urlaubstage nehmen.
Nur Tomislav Stanic, 46 Jahre alt, verheiratet, ein Kind, seit 1985 im Werk Mettingen, hat noch keine Angst, sich von den vier Kollegen, die bei ihm stehen, als „Weichei“ foppen zu lassen. Er war in diesem Jahr zehn Wochen krank, 50 Arbeitstage. Es war ein Bandscheibenschaden, kein Arbeitsunfall. Aber, so Stanic, „ich hab' Motorblöcke gehoben. Ohne den Job hätte ich die Bandscheibengeschichte nicht gehabt.“ Er verdient inklusive der Sonderschichten 6.000 Mark brutto.
Rechnen kann man nur die ersten sechs Wochen der Krankheitszeit, also 30 Arbeitstage. Seine Schätzung: „Vielleicht so 1.500 Mark. Das wäre wahrscheinlich schon irgendwie gegangen. Aber wäre nicht schön gewesen. Einmal kann man das durchhalten. Aber es gibt Kollegen, die müssen abzahlen, haben mehr Kinder, die verdienen weniger. In deren Haut möchte ich nicht stecken, wenn die krank werden.“
Sie könnten Urlaubstage opfern, das sieht das Gesetz vor. „Schon, aber Urlaub braucht der Mensch doch auch. Aber viele werden das machen, das sind dann Karenztage durch die Hintertür.“
Lense ruft durch das Megaphon, daß Mercedes jetzt zwar die Speerspitze sei beim Kürzen von tarifvertraglich garantierten Sozialleistungen, daß aber ab jetzt, hier, bei Mercedes auch die Speerspitze sei im Kampf gegen diese soziale Ungerechtigkeit. Das Werk Mettingen gehört zum Standort Untertürkheim. In Mettingen ist die Gießerei, die die anderen Autowerke mit Motorblock- und Achsenteilen aus Grauguß oder Leichtmetallguß versorgt.
In Mettingen arbeiten etwa 2.000 Leute in drei Schichten rund um die Uhr, 90 Prozent der Belegschaft sind organisiert, sagt Gustav Martin von der IG-Metall-Bezirksverwaltung. „Die Mettinger sind aktiver als andere. Das liegt wahrscheinlich daran, daß die Arbeit in der Gießerei wirklich hart ist. Die härtere Arbeit sorgt dafür, daß die Motivation, sich nichts gefallen zu lassen, hier größer ist.“
Gewerkschaftsfunktionär Martin verweist auf den Vortag: „Da gab es hier eine spontane Arbeitsniederlegung. Da war nichts geplant, da wußten wir als Gewerkschaft nichts von. Die Leute waren wütend und haben die Arbeit niedergelegt, einfach so. So was gibt es nicht überall.“ Hier in Mettingen habe es das schon öfter gegeben, diesmal wieder, das zeige doch, daß die Belegschaft wütend sei.
Mitte des Jahres waren zwischen Betriebsrat und Werksleitung Sonderschichten vereinbart worden, siebenmal bis zum Jahresende sollten samstags die Arbeiter ran und Motorteile und Achsen produzieren. Zwei Samstagssonderschichten sind gelaufen, die restlichen fünf sollen ausfallen. Helmut Lense, der Betriebsratsvorsitzende, sagt: „Wir kündigen das.“
Das heißt: Die anderen Werke, die die in Mettingen hergestellten Teile weiterverarbeiten, werden auch keine Sonderschichten machen können, selbst wenn die Arbeiter dort überhaupt wollten. Lense: „Es werden weniger Autos hergestellt werden.“ Laut Auskunft der Pressestelle bringe eine Sonderschicht 800 Autos mit dem Stern.
„Wetten, daß am Samstag doch gearbeitet wird?“
Den Arbeitern bringen die Sonderschichten Überstunden. Überstunden bedeuten Geld: 250 Mark pro Mann bringe ein Samstag. Schädigt die Gewerkschaft sich da nicht selbst, wenn sie von ihren Mitgliedern verlangt, weniger Geld zu verdienen? „Die Leute denken nicht so kurzfristig, nur an die Überstunden“, sagt Gustav Martin, „die machen sich Gedanken darüber, wie es ihnen gehen wird, wenn sie mal krank werden. Die Leute sind wütend.“ Dann zählt er auf: Urlaubsgeld und Weihnachtsgeld gekürzt, Lohnkürzungen im Werk in Kassel. Da habe der Betriebsrat zähneknirschend zugestimmt, um Arbeitsplätze zu erhalten. „So weit ist es schon gekommen.“ Und der Krankenstand sei doch jetzt schon so niedrig wie noch nie. „Niemand kann den Werktätigen vorwerfen, daß sie sich zuwenig engagieren.“
Peter Altschmidt, der Wurstbrater, ist auch wütend am Ende der Demo: „Elf Würste, so wenig waren es noch nie.“ Für ihn ist die magere Zahl ein Beleg dafür, daß die Macht der Gewerkschaft am Schwinden ist. „Wetten, die kriegen das nicht hin, daß am Samstag keine Sonderschicht gefahren wird.“
Ist Peter Altschmidt nur sauer und sagt deshalb solche Sachen? Oder werden am heutigen Samstag in den Mercedes-Werken Sonderschichten ohne Zustimmung des Betriebsrats laufen?
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