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Dichterisch sehr frei

Stephan Hermlin soll seine Biographie als KZ-Insasse und Widerstandskämpfer erfunden haben  ■ Von Peter Walther

Als 1979 Stephan Hermlins Spätwerk „Abendlicht“ erschien, ein Prosaband mit autobiographischen Zügen, hob Reinhard Lettau in seiner Buchbesprechung die Diskretion des Autors hervor. Er würdigte eine „Ästhetik des versteckten Zeigens, der verschwiegenen Mitteilung“. Karl Corino, Literaturredakteur beim Hessischen Rundfunk, ein später Nachfolger Hermlins auf diesem Posten und seit über zwei Jahrzehnten ausgewiesener Kenner der DDR-Literatur, sieht das ganz anders. In einem Beitrag, der am Mittwoch in der Wochenzeitung Die Zeit veröffentlicht wurde, wirft Corino dem Grandseigneur der DDR-Literatur vor, wesentliche Fakten seiner Biographie verfälscht zu haben. Corino über Hermlin: „Wäre es denkbar [...], daß ein Großteil seines autobiographischen Werks, seine Erzählungen und seine Bilanzschrift ,Abendlicht‘ die Inszenierung einer großangelegten Lebenslüge sind?“ Tatsächlich hat die akribische Recherche Corinos zahlreiche Widersprüche in der bisherigen Lebensdarstellung des Dichters ans Licht gebracht.

Corino hat sich bei seinen Nachforschungen auf die Auskünfte von Hermlins jüngerer Schwester Ruth, auf einen Fragebogen der amerikanischen Besatzungsmacht, einen Lebenslauf Hermlins für den „Sender Frankfurt“ (beide von 1946) sowie auf die Hinweise aus diversen Archiven stützen können. Seine Befunde hat er mit biographischen Selbstauskünften des Autors, dessen autobiographischen Texten sowie anderen öffentlichen Quellen verglichen. So erfahren wir, daß Hermlins Vater, anders als in „Abendlicht“ beschrieben, niemals Soldat im Ersten Weltkrieg war, daß er auch nicht, wie dort nahegelegt, im KZ, sondern in der Exil umkam. Ebenso bekam Hermlins Bruder nie Gelegenheit, als Jagdflieger eingesetzt zu werden, da er während der Ausbildung verunglückte. Die „Internatsjahre in der Schweiz“ schmelzen, bei Lichte besehen, auf zehn Monate zusammen, und die vielfach beschriebene Szene des spontanen Beitritts zum Kommunistischen Jugendverband auf der Straße nimmt sich in der Beschreibung von Hermlins Schwester weniger dramatisch aus. Auch hätte Hermlin wegen seiner kommunistischen Gesinnung das Abitur nicht ablegen können, was sich in biographischen Darstellungen anders liest.

Das klingt zunächst wie Erbsenzählerei, es kommt aber noch dicker. Corino bezweifelt, daß Hermlin während der Jahre in Deutschland von 1933 bis 1936 im antifaschistischen Widerstand aktiv gewesen ist. Statt untergetaucht zu sein, wohnte er, eigenen Angaben im Fragebogen zufolge, bis zur Ausreise bei den Eltern. Eine Internierung im KZ Sachsenhausen, die Hermlin zuletzt 1953 erwähnt, läßt sich nicht nachweisen. Auch sei er, so Corino, niemals als Offizier der Internationalen Brigaden in Spanien gewesen, eine Geschichte, die schon von Alfred Kantorowicz in dessen „Deutschem Tagebuch“ richtiggestellt wurde. Für unwahrscheinlich hält es Corino aufgrund seiner Recherchen außerdem, daß Hermlin in der Résistance gekämpft habe. Die Unterlagen der Schweizer Flüchtlingsbehörden belegen, daß er bereits im April 1943 in die Schweiz flüchtete, nicht erst ein Jahr später, wie in sämtlichen Nachschlagewerken zu lesen ist. Das große Jahr der Résistance habe er somit verpaßt.

Die Gründlichkeit, mit der Corino die Lebensspuren Hermlins verfolgt hat, ist beeindruckend. Gleichzeitig stellt sich an den entsprechenden Stellen die Frage, ob es legitim ist, ein literarisches Werk wie „Abendlicht“ auf biographische Fakten abzuklopfen. Darf man so umstandslos Passagen aus dem Prosaband den Ergebnissen des Archivstudiums gegenüberstellt? Die Sache ist so einfach nicht. Natürlich gibt es einen grundlegenden quellenkritischen Vorbehalt, den man schlicht als „dichterische Freiheit“ bezeichnen kann. Hermlin selbst hat jedoch relativ wenig in Interviews oder Essays von sich preisgegeben. So war es mit der Zeit üblich geworden, die wenigen Lebensdaten unkritisch aus seinen autobiographischen Texten herauszuklauben. Das haben Literaturwissenschaftler im Westen (Stephan Wackwitz) ebenso wie im Osten (Gerhard Wolf) getan, und selbst die Biographin Sylvia Schlenstedt hat sich bisweilen aus Mangel an anderen Lebenszeugnissen aus den Texten bedient.

Corino muß sich allerdings nicht einmal auf zweifelhaftes Gewohnheitsrecht berufen, wenn er das, was Lettau als „Ästhetik des versteckten Zeigens“ rühmt, als den Versuch Hermlins ernst nimmt, falsche biographische Fährten zu legen. Denn der Dichter hat die entsprechende Lesart seiner Biographie nicht nur unwidersprochen hingenommen, sondern ihr durch die eine oder andere „versteckte Mitteilung“ in seinen literarischen Texten und in Interviews neuen Stoff gegeben. Corino muß also keine Scheu haben, die Öffentlichtkeit mit den Fakten zu konfrontieren, zumal er das Charakterbild Hermlins mit dem Ergebnis seiner Forschungen ergänzt. War doch Rudolf Leder, der sich seit Anfang der dreißiger Jahre Stephan Hermlin nennt, von Beginn an als Januskopf umstritten. Was die einen als Formbewußtsein bewunderten, haben andere als hohlen Klassizismus oder als Edelkitsch verlacht. Hermlins Drang zum Höheren und Freieren war allseits bekannt. Peter Huchel bemerkt über Hermlin: „Da haben sie sich einen ausgesucht, der wenigstens mit Messer und Gabel essen kann.“ Von Brecht ist der böse Satz „außen Marmor, innen Gips“ überliefert. Hermann Kant, der eine Luftdruckpistole von der Stasi bekommen hatte, erzählt in seinem Buch „Abspann“ von gemeinsamen Schießübungen im Keller von Hermlins Haus. Ungeachtet dessen tritt Hermlin auf dem VIII. Schriftstellerkongreß 1978 überraschend als ein „spätbürgerlicher Schriftsteller“ auf.

Es gibt aber auch den anderen Hermlin, der sich für Kafka und Proust eingesetzt hat, als solche Namen in der DDR Unworte waren. Der mehrmals im Jahr seinen Duzfreund Honecker konsultierte, um sich für in Bedrängnis geratene Kollegen oder für Bücher zu verwenden, weshalb er auf persönliche Anweisung des Generalsekretärs von der Stasi überwacht und als „negativ feindlich“ schikaniert wurde. Es gibt jenen Hermlin, der 1976 den Protest gegen die Biermann-Ausbürgerung organisiert, worauf ein Schreiberkollege, Walter Gorrish, mit der Bemerkung reagierte: „Früher in Spanien hätte man die Verräter an die nächste Wand gestellt, durch sechs Gewehrschüsse erschossen und sich nicht so lange mit ihnen abgegeben.“ Nicht zuletzt gibt es den Lyriker und Nachdichter Hermlin, der mit einem sicheren Gespür für literarische Qualität einer ganzen Generation von Dichtern zur Öffentlichkeit verholfen hat. Corino beschreibt in seinem Artikel nur die eine Seite des gespaltenen Dichters, er beschreibt Hermlins Leben als die Chronik eines Hochstaplers. Der Vorwurf wird nicht ausbleiben, wieder einmal habe das westdeutsche Feuilleton eine Identifikationsfigur des Ostens demontiert. Aber die Öffentlichkeit hat ein Recht auf die Fakten, und Corino holt nur nach, was die Biographen des Dichters vor ihm versäumt haben. Was er präsentiert, ist das Nachspiel einer tragischen Biographie: Denn die eigentliche Lebenslüge von Hermlin ist nicht erst heute, sondern schon 1989 geplatzt.

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