: Vorwärts und nicht vergessen
Ost-West-Dialog „Wir lieben uns doch alle“: Renate, Marianne und Annette verlieren sich auf der Suche nach den wirklichen Problemen in der Vergangenheit ■ Von Jens Rübsam
Im Kiezladen am Helmholtzplatz dokumentiert das Sozialprojekt „Schneckenhaus“ die Arbeit der letzten fünf Jahre. Bilder „von Menschen in schwierigen Lebenssituationen“ hängen an der Wand. Deren Alltag, so ist zu lesen, sei heute noch immer gekennzeichnet von Suchtproblemen, ...
„Die Geschichte von der Gans Auguste kenne ich“, sagt die Wessi-Frau. „Du meinst die Weihnachtsgans Auguste“, berichtigt die Ossi-Frau. „Ja, die Weihnachtsgans Auguste“, nimmt die Wessi-Frau den Hinweis auf den korrekten Namen des Ossi-Märchens auf. Beide, die Wessi-Frau Renate Künast (Bündnisgrüne) und die Ossi-Frau Marianne Birthler (Bündnisgrüne), müssen lachen. Die dritte am Dialogtisch, die ostdeutsche Psychotherapeutin Annette Simon, schmunzelt verhalten. „Wir lieben uns doch alle“ – so das Motto dieses Ost-West- Gesprächs am Sonntag abend im Prenzlberger Kiezladen.
von Arbeitslosigkeit, ...
Renate Künast läßt im Schnelldurchlauf ihr Wessi-Leben Revue passieren. Geboren 1955 in Nordrhein-Westfalen, der Vater ein 1949 abgehauener Ossi aus Thüringen, sie ein Kind des Kalten Krieges, die ersten politischen Gedanken beim Tode JFKs und Martin Luther Kings. 1968 die Worte der Eltern noch gut im Ohr, „Man kann doch nichts ändern“, ein Studium der Sozialarbeit in Düsseldorf begonnen und beendet, auf der Suche nach einer politischen Nische in der Anti-AKW-Bewegung fündig geworden. 1980 eingetreten in die „Republik Freies Wendland“, inzwischen schon in Berlin, bei der AL und im Studium der Rechtswissenschaften angekommen. „Wenn man an dem System etwas ändern will, muß man seine Werkzeuge beherrschen.“ Und dann: Anwältin und irgendwann Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses.
von Wohnungslosigkeit, ...
Annette Simon ordnet ihre politische Biographie. Geboren 1952 in Karlshorst, den Ost-West-Konflikt hausnah erlebt. „Plötzlich waren die Nachbarn fort, und die Wohnungen standen leer mit allem drin.“ Gläubiges Mitglied der Jungpioniere gewesen, 1966 Teilnehmerin eines Pioniertreffens in Karl-Marx-Stadt, „ich war entsetzt, was da ablief, Kissinger und Erhard wurden symbolisch geköpft. Da hörte meine Gläubigkeit auf.“ Und dann: 1968 erschüttert über den Einmarsch der Russen in die Tschechoslowakei, aufgehört, sich politisch zu engagieren, trotzdem das Abitur gemacht und ein Studium der Psychologie aufgenommen – mit allen Marxismus- Leninismus-Seminaren und dazugehörenden Platitüden. Dann zu arbeiten begonnen in einer Nervenklinik, „weil das in der DDR der einzige Ort war, wo man es gut aushalten konnte“. Endgültig mit der DDR gebrochen, als Biermann ausgewiesen wurde, aber nie mit dem Gedanken gespielt, das Land zu verlassen. 1989 im Neuen Forum mitgearbeitet, jetzt nicht mehr politisch aktiv. „Ich sehe nicht den richtigen Ort.“
von Verschuldung, ...
Zwei Biographien – ähnlich oder doch verschieden? –, jedenfalls an jenem Punkt zu Ende erzählt, als West und Ost aufeinanderprallen. Wie Ossis und Wessis nach 1989 miteinander umgehen, ob sie es überhaupt tun, wie sie heute, im Jahre sieben der deutschen Einheit, aufeinander reagieren, das sagen Künast und Simon nicht und auch nicht Moderatorin Birthler. Statt dessen Wühlen in der Vergangenheit, da, wo man einander noch nicht kannte. „Du, Renate, hast du damals eigentlich daran gedacht, wie es einer Frau im Osten ging?“ will Annette wissen. „Eigentlich nicht“, gibt Renate zu, „ich fand die Engländer viel spannender.“ Und Renate fragt: „Du, Annette, was hast du eigentlich mit Taktikanwenden beim Studium gemeint?“ Annette sagt: „Meine Taktik war das Schweigen. Nichts zu sagen im ML-Seminar. Ich weiß, ich habe mich angepaßt.“
von Straffälligkeit, ...
„Müssen wir denn gleich sein?“ fragt Marianne Birthler am Schluß des Ost-West-Dialogs. „Können wir nicht gelassen akzeptieren, daß wir verschieden sind. Können wir das nicht auch als Chance sehen?“
von Kontaktschwierigkeiten.
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