piwik no script img

Eine ganz authentische Geschichte

Was andere können, kann ich auch, denkt Mario – und versucht, die Erfahrungen zweier von Pornoherstellern mißbrauchter Kinder zu Geld zu machen. Er ist überzeugt, ihnen damit Gutes zu tun  ■ Aus Palermo Werner Raith

Der Anruf klang geheimnisvoll und auch ein wenig beunruhigend: Man habe, über Umwege, den taz- Artikel über neapolitanische und sizilianische Pornohersteller (taz vom 26.8.) gelesen. Ob Bedarf bestehe, mit Opfern dieser Schweinereien zu reden? Ein zwölfjähriger Junge aus Albanien und seine zwei Jahre jüngere Schwester, beide zu Pornofilmen mißbraucht, stünden bereit, über ihre Erfahrungen zu berichten.

Derlei erregt natürlich zuerst einmal Mißtrauen, zumal wenn die Verabredung in der Kalsa zu Palermo stattfinden soll, einem der angestammten Horte mafioser Aktivitäten. Andererseits: Angesichts der Abneigung der Cosa- Nostra-Bosse gegen die Ausbeutung von Sexualität (Zuhälterei ist dem Mafioso ab seinem Treueschwur zur „Ehrenwerten Gesellschaft“ absolut verboten) ist eine Falle von dieser Seite eher unwahrscheinlich. Zudem war eine Frau am Telefon, die sehr besorgt klang.

Der Treffpunkt liegt nahe dem ehemaligen „Platz der 13 Opfer“, der nun „Platz der Opfer der Mafia“ heißt. Die Via Patti führt zum Meer, hinein in das Gewirr ältlicher Hafenanlagen; da solle man warten.

Einige schmuddelige Kinder rennen herum, ein paar Arbeiter im Blaumann spielen Fußball. Eine Frau sitzt vor einer Bürobaracke und strickt, sonst ist nichts Aufregendes zu bemerken. Bis mich jemand am Arm zupft: „Sind Sie der Deutsche?“ fragt eine Jungenstimme, die gerade im Stimmbruch sein mag. Der Daumen weist entlang der breiten Via Francesco Crispi, „die Bar unter den Bögen“. Dort erwartet mich aber auch keine Frau, sondern ein freundlicher junger Mann. „Verstehen Sie, wir müssen etwas konspirativ sein“, sagt er, „aber es ist ja nicht so einfach. Seit die Pornosache aufgeflogen ist, kann man sich nicht mehr mit Kindern sehen lassen, die auch nur entfernt Ausländer sein könnten.“ Sozialarbeiter sei er, sagt er, Mario heiße er. Dann nimmt er meine Frage, wieso er als Sozialarbeiter denn vorsichtig sein muß, vorweg: „Ganz einfach – weil diese Kinder noch immer illegal hier sind. Sie gehören zu denjenigen, die wir ohne Polizeihilfe aus den Fängen der Porno-Gangster befreit haben. Liefern wir sie den Behörden aus, schicken diese sie sofort zurück nach Albanien. Aber diese Kinder wollen nicht zurück.“

Klingt einleuchtend und auch wieder nicht. Wenn sie so großes Leid mitgemacht haben und eigentlich verborgen bleiben müssen, warum wenden sie sich dann an die Presse? „Nicht an irgendeine, sondern an ausländische“, sagt Mario, „wir haben nicht nur Sie angerufen. Aber die meisten haben Angst zu kommen.“ Sicher, in einer solch brisanten Sache nach Palermo zu reisen bereitet ja auch Herzklopfen – warum kommt er mit den Kindern nicht nach Rom oder Mailand, da sind sie auch sicherer? Er schüttelt den Kopf. „Nein. Ich kann die Kinder nur schützen, wo ich mich auskenne, und das ist eben hier. Wenn ich nach Rom fahren würde, hätten uns die Carabinieri schon nach einer halben Stunde. Und was geschähe dann? Erst mal müßten sie den Staatsanwälten und dann den Gerichten hundertmal die Pein schildern, die sie durchlebt haben. Und am Ende würden sie abgeschoben, zurück nach Durazzo, wo sie herkommen. Doch ihr Vater ist bei der Überfahrt hierher ertrunken, die Mutter hat noch weitere fünf Kinder zu versorgen.“

Wir sind inzwischen durch die Altstadt gelaufen, tauchen ins Gewühl des Vucciaria-Marktes und in das Labyrinth der Gäßchen ein. „Möglicherweise gelänge es ihnen auch zu entwischen. Und schwupp würden sie wieder in die Fänge dieser Gangster geraten. Dort wie hier. Vor ein paar Wochen gab's diesen Kongreß in Schweden über Kindesmißhandlung, da standen alle unter dem Schock der Morde in Belgien. Aber inzwischen schert sich keiner mehr drum. Alles läuft wie bisher, Pornos werden gedreht wie eh und je.“

Er biegt in einen Hinterhof ein, es geht einige Stufen hinunter in einen Keller. In dem kahlen Raum sitzen die beiden Kinder. „Avni“, stellt der Sozialarbeiter vor, „und Mira.“

Avni hat braune Jeans an, ein T-Shirt mit dem Aufdruck „B 52“, Sandalen, die unbequem aussehen; er blickt einen geradeaus und sehr forschend an. Mira sitzt einen halben Meter hinter ihm, fast versteckt, greift sich immer wieder in ihre dichten braunen Haare mit dem Knötchen obendrauf. Sie hat einen langen schwarzen Rock und einen dunkelgrauen Pullover an – trägt links einen Handschuh. Mario bemerkt den Blick darauf: „Sie hat sich zwei Finger gebrochen, als einer ihrer Peiniger sie in die Ecke geworfen hat, weil sie nicht mitmachen wollte. Jetzt ist einer der Finger krumm, sie schämt sich, ihn herzuzeigen.“ Mira nickt. Wenn sie den rechten Arm hebt, rutscht der Pullover bis zum Ellbogen zurück, man sieht blaue Flecken und offenbar auch einige Einstiche an der Beuge.

„Wie geht's euch?“ frage ich. „Ihr versteht Italienisch?“ Beide nicken. „Nein“, sagt Mario, nimmt einen Stuhl und setzt sich zwischen uns. „Sie werden jetzt keine Fragen stellen, noch nicht.“ Seine Stimme hat plötzlich einen ganz anderen, entschiedenen Klang. „Wir müssen uns erst über einiges klarwerden.“ – „Worüber? – „Wohin werden Sie die Geschichte verkaufen?“ – „Ich werde sie gar nicht verkaufen, sie soll in der taz erscheinen, wie telefonisch vorbesprochen, immer vorausgesetzt, daß sie einer gründlichen Recherche standhält.“ – „Wieviel kriegen Sie dafür?“ Ich nenne ihm das Zeilenhonorar: Wenn's eine ganze Seite wird, etwa 350 Mark, 350.000 Lire. Mehr gibt's nicht dafür. „Soll das ein Witz sein?“ fragt er. Nein, es ist kein Witz. Und ich kann ihm auch versichern, daß selbst größere Zeitungen... „Ist mir gleich“, sagt er. „Hören Sie. Ich habe Sie hierherkommen lassen, weil diese Kinder Hilfe brauchen. Sie werden mit Ihrem Artikel Mitleid erregen, sicher. Aber davon können die hier nicht abbeißen. Die brauchen Geld, um zu leben. Um sich nicht verkaufen zu müssen und wieder in die Hände dieser Gangster zu fallen. 350.000 Lire, das ist ja lächerlich. Verkaufen Sie die Geschichte doch an eine große Illustrierte.“

Gerade das möchte ich nicht, weil ich keinen Einfluß darauf habe, wie es präsentiert wird. Zu groß scheint die Gefahr eines „humanitären Voyeurismus“, wie il manifesto das genannt hat.

Zudem kenne ich die Geschichte ja auch noch gar nicht. Wenn sie hält, werde ich gerne herumbetteln, damit die Kinder etwas bekommen. „Nein“, sagt er, „ich will es gleich. Hier. Jetzt.“

Avni ist aufgestanden und zu seiner Schwester getreten. „Sie müssen wissen, Herr“, sagt er untertänig mit einer etwas rauhen, hart akzentuierten Stimme, aber in passablem Italienisch, „Sie müssen wissen, daß wir viel Leid mitgemacht haben. Wir sind schwer verletzt worden. Diese Menschen hier“, er weist auf Mario, „haben uns gerettet. Die anderen, die bösen Menschen, haben uns geschlagen, wenn wir nicht getan haben, was sie wollten, Meine Schwester blutet noch immer, sie kann nicht richtig aufs Klo. Wenn ein Mann sie anfaßt, muß sie speien. Ich bin der einzige, der sie berühren darf. Sie ist erst zehn Jahre alt.“

Er wirft einen unsicheren Blick auf Mario, bei dem wieder der gütige Gesichtsausdruck eingekehrt ist. „Da sehen Sie“, sagt er. „Erzähl, was sie mit dir gemacht haben, Mira.“ Mira schlägt den Blick nicht vom Boden auf und beginnt. „Sie haben mich ausgezogen, sie haben mich angefaßt, dann mußte ich...“ Mario unterbricht sie wieder. „Sie sehen, die Geschichte ist authentisch.“ Er geht zu Mira, legt den Arm um sie. Avni macht eine Geste, Mario versteht, erkennt die Blöße. „Zu mir hat sie auch Vertrauen“, sagt er, ein wenig verärgert, daß er die Geschichte Avnis mit der Berührungsangst unglaubwürdig gemacht hat.

Schwierig zu entscheiden, was hier vorgeht. Beide Kinder sehen malträtiert aus, schwach, ängstlich, aber auch offen und ehrlich. Dennoch scheint manches eher eingelernt. Ein Bluff soll helfen. „Mario, Sie sind kein Sozialarbeiter.“ Er richtet sich auf. „Wie bitte?“ – „Zeigen Sie mir Ihren Ausweis oder irgend etwas, das Sie als Sozialarbeiter belegt.“ Mario wirft einen schnellen Blick auf die Kinder; die zwei haben sich bis fast an die Wand zurückgezogen. „Was fällt Ihnen ein?“ Er macht eine herrische Geste. Dann läßt er die Schultern wieder sinken. „Ich bin kein amtlich angestellter Sozialarbeiter, Sie haben recht“, sagt er, „aber ich bin Sozialarbeiter von meiner Ausbildung her. Ich habe an der Universität Palermo studiert. Aber ich kann nicht in den Staatsdienst.“ Er sieht mich gerade an: „Mein Vater ist wegen krimineller Bandenbildung vorbestraft, und die Antimafiagesetze verbieten, Mitglieder solcher Familien in den öffentlichen Dienst zu übernehmen.“ Er sieht mich geradeaus an; das mit dem Gesetz stimmt tatsächlich.

Merkwürdigerweise wird die Situation in diesem Moment keineswegs ungemütlich. Sie klärt sich eher. „Aber ich versichere Ihnen, daß ich mit diesen Kindern nichts angestellt habe.“ Avni und Mira flüstern aus dem Hintergrund: „Ja, er ist ein guter Mensch. Er verkauft unsere Geschichte“, sagt Mira. Mario muß lächeln. „Ja, das tut er, der Mario.“ Dann lächelt er noch mehr. „Ich dachte, was die anderen können, kann ich auch.“ – „Was?“ – „Na ja, die, die diese Kinder dem Fernsehen verkaufen. Viele von ihnen bekommen Geld dafür, daß sie Journalisten ihre Geschichte erzählen.“ Er bemerkt das ungläubige Staunen. „Das heißt nicht, daß die Geschichten erfunden sind. Sie sind alle authentisch. Ich habe diese Kinder wirklich befreit, weil ich zufällig von ihrem Schicksal erfahren habe. Aber Leute wie ich müssen von etwas leben. Und manche von diesen Befreiern leben nicht schlecht vom Verkauf der Geschichten.“

Mag sein. Aber auf dieser Basis kommen wir nicht zusammen. Er hebt die Schultern. „Scpiace“, tut mir leid. Beim Hinausgehen dreht er den Schlüssel von außen um, zieht ihn ab. Er bemerkt meinen Blick. „Besser so“, sagt er, „wo soll ich sie finden, wenn sie abhauen?“ – „Sie sind Ihr Kapital, nicht wahr?“ – „Kann man so sagen. Aber da gibt es nichts zum Entsetzen. Einer, der die Geschichte eines Entführungsopfers managt, tut auch nichts anderes.“

Es ist zum Haareraufen. Jeder, der über diese Kinder herrscht, glaubt ihnen etwas Gutes zu tun. Die Pornohersteller behaupteten allen Ernstes, sie retteten Kinder aus dem Balkan vor Krieg und Hungertod und hätten das Recht, „gewisse Dinge“ von ihnen zu verlangen. Leute wie Mario haben sie vor dem Pornodrachen gerettet und beanspruchen nun die Erfahrungen der Geschundenen als ihr Copyright. Richter glauben, die Kinder erneut zum Durchleben ihrer grauenhaften Erfahrungen zwingen zu müssen – um die Menschheit vor Unholden zu bewahren. „So ist die Welt“, nickt Mario. „Aber für die Kinder wird es von Stufe zu Stufe besser. Sie werden freier, bearbeiten die Erlebnisse, werden am Ende auch selbständig.“

Sein Wort in Gottes Ohr.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen