■ Die Spardebatte erinnert an eine frühere Mobilmachung: Es gibt keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche: Den Karren in den Dreck fahren
Es steigen fatale historische Reminiszenzen auf, wenn man der deutschen Spar- und Standortdebatte jene Untertöne ablauscht, die einem aus der jüngeren deutschen Geschichte irgendwie vertraut vorkommen. Wer genau hinhört, wenn die regierende Koalition, von keiner Opposition nennenswert gestört, über Sparvorhaben und -ziele spricht, wenn die Herren in den Vorstandsetagen der Konzerne ihre Monologe über angebliche deutsche Standortnachteile, über hohe Lohnnebenkosten und Sozialschnorrerei herunterleiern, wenn von Unternehmerverbänden und Handwerkskammern der große Verzicht gepredigt wird, dem entgeht nicht, daß diese Rhetorik des Verzichts einem bewährten ideologischen Muster folgt, das in großem Stil erstmals vor 80 Jahren erprobt worden ist.
„Gold gab ich für Eisen“ – so stand es auf jenen wertlosen, aber vaterländischen Plaketten, die im Ersten Weltkrieg en masse ans Volk ausgegeben wurden. Im Tausch gegen Schrott lieferte es seine Wertsachen, gewissermaßen das Tafelsilber, ab, damit das kriegführende Reich, welches im Standortwettbewerb mit Großbritannien, Frankreich, Rußland und schließlich auch den Vereinigten Staaten lag, seinen Kampf um den „Platz an der Sonne“ erfolgreich weiterführen konnte.
Damals wurde der Bevölkerung suggeriert, wenn sie nur genügend gebe- und verzichtfreudig und entsprechend leidensfähig sei, werde sich am Ende alles zum Guten wenden, der Standort Deutschland geographisch und politisch enorm erweitert (Stichwort „Siegfrieden“) und damit für jeden ein Platz an der Sonne bereitgehalten.
Es kam bekanntlich ganz anders. Die Masse der Bevölkerung – selbstredend sind auch heute immer nur „die anderen“, die sogenannten Arbeitnehmer, gemeint – bezahlte den ausgebliebenen deutschen Sieg im europäisch-amerikanischen Standortkrieg nicht nur mit ihrem Tafelsilber, sondern auch mit Hunger, Krankheit und zehntausendfachem Tod. Am Ende waren 95 Prozent der Deutschen betrogen und verraten von jenen, die ihnen eine sichere Zukunft versprochen und sich, als diese sich als Schimäre erwies, schmählich aus der Verantwortung gestohlen hatten.
Die Reichsführung unter Ludendorff hatte nach dem Fehlschlagen der letzten großen deutschen Offensive im Westen die politische Verantwortung an die Sozialdemokratie weitergegeben. Und die mußte zum einen zusehen, wie sie mit dem ökonomischen, militärischen und politischen Desaster fertig wurde. Zum anderen sahen sich die Sozialdemokraten später dem Vorwurf ausgesetzt, sie seien der vaterländischen Sache in den Rücken gefallen („Dolchstoßlegende“).
Nur einige wenige konnten sich am Ende des Krieges wirklich ins Fäustchen lachen, die nämlich, die es an der Heimatfront verstanden hatten, als Kriegsgewinnler jenes Gold einzusammeln und jene Dividende einzustreichen, für die andere hatten bluten müssen.
Nun taugen die Verhältnisse des heißen, das heißt mit Waffen geführten, Krieges und die des kalten, das heißt mit wirtschaftlichen Mitteln geführten, Krieges nur begrenzt zum Vergleich. Was indes der heiße Krieg von damals und der kalte Krieg von heute unübersehbar gemeinsam haben, ist ihr Mobilmachungscharakter: „Das Volk“ wird, bei Strafe des Untergangs, kollektiv auf ein nationales Projekt verpflichtet, zu dem es keine Alternative gibt.
Die allgemeine politische Mobilisierung zielt darauf, der Bevölkerung klar zu machen, daß sie von Feinden umstellt ist, denen man in einer gemeinsamen Anstrengung begegnen muß – man kennt keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche. Umfrageergebnisse aus Allensbach, die der Kanzler besonders gerne liest, belegen, daß die Mehrheit der Deutschen einsichtig genug und bereit ist, den Gürtel enger zu schnallen. Die wie ein Menetekel an die Wand gemalten Herausforderungen der ökonomischen Globalisierung werden offenbar angenommen, der Mobilisierungseffekt scheint zu greifen.
Was geschieht hier wirklich? Walther Rathenau, genialer Organisator der deutschen Kriegswirtschaft im Ersten Weltkrieg, hat es für seine Zeit gewußt: Die Ökonomie ist das Schicksal. Zwar wurde der Krieg deutscherseits im Namen großer Ideen geführt; aber Klügeren wie dem später ermordeten Außenminister Rathenau war klar, daß der kalte Krieg die Determinante des heißen ist und daß es nicht um patriotische Ideale ging, sondern um handfeste wirtschaftliche Vorteile – um den Zugriff auf ökonomische Ressourcen, um Märkte und Anlagemöglichkeiten von vagabundierendem Kapital.
80 Jahre später, nach dem Ende der Systemkonfrontation, bedarf es keiner idealisierten Rhetorik, keiner verpflichtenden „Moral“ mehr, um das Volk, den großen Lümmel (Heine), zu mobilisieren: Die Ökonomie ist das Schicksal – friß, Vogel, oder stirb!
Nochmals: Was geschieht hier und heute wirklich? Etwas Seltsames und doch etwas Logisches zugleich. Die kapitalistische Ökonomie hat sich, weltgeschichtlich einzigartig, von allen ihren historischen und moralischen Voraussetzungen – protestantische Ethik, Sozialbindung des Eigentums etc. – radikal und endgültig emanzipiert.
Sie ist zu einem selbstreferentiellen Universum geworden, das nur noch Geld als Kommunikationsmittel gelten läßt und in dem Menschen lediglich insofern eine Bedeutung haben, als sie teure, unwirtschaftliche und deshalb überflüssige Kostgänger eines Systems sind, das sich selbst genug ist. Geld, aus allen historischen, sozialen und moralischen Bindungen (aus religiösen sowieso und schon lange) entlassen, kann und will nur mit sich selbst kommunizieren.
An der Debatte läßt sich ablesen, wohin die kapitalistische Reise gehen soll – ins Irgendwo und Nirgendwo einer Zukunft, in der, wie kürzlich einer schrieb, die Ökonomie die Demokratie frißt, in der die meisten Menschen von jeder gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen werden; in eine Zukunft, in der Haß und soziale Gewalt das wahre Signum des Fortschritts sind.
Irgendwann im globalen Standort- und Verteilungskrieg wird es zum großen Crash kommen. Alle Mobilisierungsanstrengungen werden sich dann als tödlich erwiesen haben. Wieder werden sich diejenigen aus dem Staube machen, die den Karren in den Dreck gefahren haben. Wird es aber noch einmal eine Sozialdemokratie geben, die ihn dann herauszieht? Man hat viele Gründe, daran zu zweifeln.
Hans-Martin Lohmann
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