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In melancholischem Ungefähr

Die Duisburger Dokumentarfilmwoche zeigte: Das Genre beschäftigt sich noch immer mit der deutschen Vergangenheit, aber der moralisierend-kämpferische Impetus ist verschwunden  ■ Von Stefan Reinecke

Im April 1945 findet der 19jährige Gefreite Willi Herold eine Offiziersuniform. Herold, Schornsteinfegerlehrling, gibt sich fortan als Hauptmann aus, behauptet, von Hitler persönlich gesandt zu sein, und zieht ein paar Wochen lang mit einer marodierenden Truppe mordend durch das Emsland. Ein Herrenmensch, der mit weißen Handschuhen Massenerschießungen durchführt und Bauern, die die weiße Fahne gehißt haben, hinrichten läßt. Die 20 Tage von Salo im Emsland.

„Der Hauptmann von Muffrika“, gedreht von Paul Meyer und dem Alexander-Kluge-Mitarbeiter Rudolf Kersting, erzählt eine deutsche Geschichte: die Wiederholung der Camouflage des Hauptmanns von Köpenick als blutige Farce. Daß der Krieg verloren war, wußte auch Willi Herold. Sein Motto war: Man muß trotzdem kämpfen. Ein Faschist, nicht der Gesinnung, sondern der Tat: schrankenlos und fasziniert vom Tod, auch vom eigenen. So erscheint er als Gegenfigur zu Adolf Eichmann: das faschistische Böse nicht als banale Schreibtischtat, sondern dantesche Höllenfahrt.

„Der Hauptmann von Muffrika“ ist ein typisches Exemplar des deutschen Dokumentarfilms 1996, wie er auf der Duisburger Dokumentarfilmwoche präsentiert wurde. Das Festival, das am Sonntag zu Ende ging, ist seit 20 Jahren ein verläßliches Forum der Trends des Genres; gewissermaßen das Familientreffen der Dokumentaristen. Der Blick richtet sich noch immer auf die Nazivergangenheit, aber die Richtung hat sich geändert. Es geht nicht mehr um Geschichte, sondern um Geschichten, nicht um den moralbewehrten Kampf gegen die Väter, sondern um einen faszinierten Blick auf Existentielles.

„Oskar und Jack“ von Frauke Sandig erzählt die bizarre Geschichte von zwei Zwillingssöhnen einer deutsch-jüdischen Ehe der 30er Jahre. Der eine wuchs beim jüdischen Vater in Trinidad auf, der andere als Hitlerjunge bei der deutschen Mutter im Sudetenland. Ein Treffen in den 50ern in Deutschland endete als Desaster. Oskar, inzwischen Bergmann im Ruhrgebiet, mußte vor dem Nazistiefvater verbergen, daß Jack aus Israel anreiste, um einen Eklat zu vermeiden. Der Schock, der auch den Film bewegt, war indes unpolitischer Natur. Vor beiden stand am Bahnhof ein Fremder „mit meinem Gesicht“.

Das Weltgeschichtliche verblaßt, in den Focus rückt das Merkwürdige, nicht das Typische. Sogar Walter Blohms um pädagogische Eindeutigkeit bemühter Film „Ich war Täter“ endet in Ambivalenz. Sechs deutsche Soldaten erinnern sich an die Ostfront. Das Ergebnis ist zwiespältig: eine Art Beichte, eine unentwirrbare Melange von Wahrhaftigem und Projektion, von Rechtfertigungsklischees, Selbstanklagen und Kampf um öffentliche Absolution.

Der Film, formal erschütternd schlicht, ist der Rede wert, weil normale Deutsche vor einer Kamera noch nie so offen über Terror gegen Juden und Zivilisten gesprochen haben. Am Ende steht eine fast phantasmagorische Erzählung jenes Mannes, der am kritischsten mit sich ins Gericht geht und dem wir am meisten vertrauen. 1945 fiel er der Roten Armee in die Hände. „Ich dachte, jetzt werde ich zerstückelt“, sagt er stammelnd. Da geschah das Wunder. Der „Untermensch“ tritt ihm als sowjetische Ärztin entgegen, die ihn heilt und ihm versichert: „Hitler kaputt.“

Das Erlebnis des Kriegsendes fällt mit der Erkenntnis zusammen, von der Naziideologie geblendet gewesen zu sein. Die Zerstückelung, die Wiederkehr dessen, was man dem Feind antat, als Projektion findet nicht statt. Der Feind gibt sich als Frau zu erkennen, als Engel, der den Kreislauf der Schuld durchbricht. Die Heilung im Augenblick des drohenden Todes – so enden Märchen. So mündet „Ich war Täter“, gedacht als authentisches oral history- Lehrstück, in die Erkenntnis des Gegenteils: Die Erinnerung wird durchsichtig als dramatische Konstruktion.

Und die Gegenwart? Daß der dokumentarische Blick noch immer so heftig (und trotz genrebedingter Bildernot) in die Vergangenheit fällt, weist auf eine Leerstelle. Dort finden sich Geschichten von Leben und Tod, Schuld und Wundern, die die bundesdeutsche Angestelltenkultur nicht hergibt. So spektakulär diese Geschichten sein mögen – die Vergangenheit ist ausgemessenes, gesichertes Terrain, alles Neue auf diesem Gelände nur Ergänzung.

Ein Blick auf Alltägliches wagt „Der Auftritt“ von Harun Farocki, eine unspektakuläre Beobachtung, eine gute halbe Stunde lang. Ein Raum, darin ein Tisch, Bühne für ein Verkaufsgespräch. Eine Werbeagentur stellt einem Kunden, dem Manager eines Optikkonzerns, seine Kampagne vor. Der Werbemann schwadroniert über Zeitgeistigkeit, „relevante Imagefaktoren“ und macht Vorschläge, die „noch corporatedesigniger sind“. Das ist ein Reden auf höchstem rhetorischem und magerstem geistigem Niveau: postmodernes Wortgewitter, das jeden Einwand vorausahnend einzubetten scheint. Der Konzernmann bleibt meist stumm, beredt nur in abwehrenden Körpergesten.

Farocki zeigt diesen Diskurs als verdichtete, kommunikative Wirklichkeit, als Duell symbolisch vermittelter Selbstinszenierungen. „Der Auftritt“ sieht aus wie ein perfekt gespieltes Theaterstück, weil die Arbeit der Werbeleute mit der Inszenierung dieser Arbeit zusammenfällt. So erscheint der Werbemann als entfernter Verwandter des Nazihochstaplers Willi Herold. Man ist, was man scheint. Der soziale Habitus zählt, die Inszenierung ist das Wirkliche.

So exakt Farocki postmaterielle Arbeitswelt vorführt, so genau beschreibt „Der Transport“, gedreht von der Wendländischen Filmkooperative, politischen Kampf als Inszenierungsstrategie. 1995 rollt der erste Castor-Behälter nach Gorleben. Tapfere, renitente Bauern bekunden ihren Widerstand, Polizisten schaffen mehr oder weniger brachial Menschenketten aus dem Weg, törichte Atommanager diffamieren die Anti-Castor-Bewegung als Chaotenversammlung oder, etwas bizarrer, als Agenten der US-Mineralölindustrie. Am Ende ist der Castor in Gorleben. Zwei Frauen weinen auf der Straße. Astor Piazzollas Tangomusik hüllt die Niederlage in melancholisches Ungefähr.

Gleichzeitig überschreitet „Der Transport“ das Genre Bewegungsfilm, indem er das Geschehen als Krieg der Bilder zeigt. Wir sehen Kamerateams, die sich um die Menschenketten drängeln, später Deeskalationsstrategen der Polizei am Monitor, die diese Bilder vom Bildermachen begutachten. Als die letzte Menschenkette abgeräumt wird, sind Szenen vom Kölner Karneval einmontiert. Die Konfrontation von Staatsmacht und Bewegung wird zur theatralischen Klimax eines „Gesamtkunstwerks ohne Regisseur“, so der Politologe Jürgen Seifert.

„Der Transport“ zeigt den Anti- Castor-Kampf als Vollendung der Idee des politischen Theaters aus den 70ern. Jeder kann mitspielen, körperlicher Einsatz ist gefragt, und kein Stadttheater, sondern der öffentliche Raum ist die Spielfläche. Politik wird zum Duell symbolischer Selbstinszenierungen, der Kampf eine Aufführung für das Fernsehpublikum, dessen Sympathien auf dem Spiel stehen. „Der Transport“ ist so etwas wie ein postmoderner Bewegungsfilm.

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