piwik no script img

Mikado in Karlsruhe?

■ Verfassungsgericht berät Wahlrechtsänderung

Mikado ist ein japanisches Geschicklichkeitsspiel. Wer unvorsichtig am falschen Stäbchen zieht, bringt das Gleichgewicht der Stäbchen ins Wanken und hat verloren.

Die Christdemokraten scheinen das deutsche Wahlrecht als Mikadospiel zu begreifen. „Nur kein Stäbchen herausziehen“, scheint ihre Devise zu lauten. Im Bundestag haben sie daher nur einige Wahlkreise neu zugeschnitten, die Regelung der Überhangmandate blieb erhalten – ebenso wie die Grundmandateklausel, die der PDS den Bundestagseinzug über vier Direktmandate erlaubte. Noch vor einem Jahr wollte die Union als Reaktion auf den PDS-Triumph diese Klausel abschaffen oder zumindest die erforderlichen Direktmandate von drei auf fünf erhöhen.

Der Sinneswandel der Union ist naheliegend. Will die Bundesregierung die Überhangmandate behalten, die ihr derzeit ein komfortables Regieren erlauben, so muß sie das derzeitige Wahlsystem als Mischsystem definieren: ein Gemisch aus Verhältniswahl (bei der das Prinzip der Stimmengleichheit streng durchzuführen ist) und Mehrheitswahl (die mathematische Verzerrungen zuläßt). Die Union sagte sich also: Wollen wir die Überhangmandate retten, müssen wir eben auch die PDS im Bundestag akzeptieren. Dies hätte zugleich den Vorteil, SPD und Bündnisgrüne mit Koalitions- und Tolerierungsfragen in Verlegenheit bringen zu können.

Ob Karlsruhe diese Verbindung ebenfalls sieht? Ein Indiz dafür ist, daß gestern beide Fragen zusammen behandelt wurden. Ideale Voraussetzungen für ein Urteil, das links und rechts gleichermaßen befriedigt: Behält der Kanzler am Ende seine Überhangmandate, so wird dies niemand als Liebedienerei der Verfassungsrichter brandmarken, wenn gleichzeitig auch die Interessen der PDS gewahrt bleiben.

Doch das Verfassungsgericht muß sich an eigenen Maßstäben messen lassen. Zu beiden Wahlrechtsbestimmungen hat es bereits Urteile gefällt. 1988 entschied Karlsruhe: Überhangmandate sind nur „in engen Grenzen“ möglich; und in den 50er Jahren wurde die Grundmandateklausel akzeptiert. Hält das Verfassungsgericht an seinen eigenen Grundsätzen fest, dann hätte sich die Union mit ihrer „Mikado-Theorie“ verrechnet. Christian Rath

Bericht Seite 4

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen