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■ Niedersachsen: IG Metall verteidigt 100% LohnfortzahlungSymbolischer Sieg, harte Realität

Die Gewerkschaften genießen die Siegerpose, die Arbeitgeber geben sich zerknirscht: Im ersten Tarifvertrag der Metallindustrie ist die hundertprozentige Lohnfortzahlung für Kranke festgeschrieben. Zwar kostet das die Arbeitgeber wenig – sie konnten Kürzungen beim Weihnachts- und Urlaubsgeld erreichen. Aber die Gewerkschaften können sich rühmen, ein Symbol, das das Prinzip der Solidarität verkörpert, verteidigt zu haben. Und davon hängt schließlich ihre Existenzberechtigung ab.

Tatsächlich sind die Gewerkschaften nach langem Siechtum wieder im Aufwind. Nach vielen Jahren des Mitgliederschwunds konnten sie in den letzten Monaten Tausende neuer Kollegen begrüßen. Doch dabei profitierten sie weniger von eigenen Konzepten als von der Blödheit der Regierung und der Arbeitgeber. Vor allem die pure Machtdemonstration von Daimler-Chef Jürgen Schrempp, der entgegen geltenden Tarifverträgen den Kranken weniger Lohn überweisen wollte, kam sehr gelegen. Der Rechtsbruch in einem Konzern, der für nächstes Jahr ein Milliardenplus erwartet, machte die Mobilisierung leicht. Und er wurde für die Gewerkschaften zum Hebel gegen die Umsetzung des gerade erst beschlossenen Gesetzes.

Trotzdem – dieser Verteidigungskampf ist vielerorts schon verloren. Arbeitnehmern in pleitebedrohten Firmen ist es nämlich lieber, ihren Chefs Zugeständnisse zu machen, als arbeitslos zu werden. Und bei Opel in Bochum wurde vereinbart, das Weihnachtsgeld zu kürzen, wenn der Krankenstand sechs Prozent überschreitet. In solchen Fällen übernehmen die Arbeitnehmer die Kontrolle ihrer Kollegen selbst – zur Freude des Kapitals.

So sind die Gewerkschaften, trotz werbewirksamer 100 Prozent Lohnfortzahlung, in der Defensive. Im gestrigen niedersächsischen Lohnabschluß steht nichts über beschäftigungswirksame Maßnahmen, so wie ursprünglich angekündigt. Die Solidarität betrifft also wieder nur jene, die noch einen Job haben.

Gelingt es den Gewerkschaften nicht, eine nach vorn gerichtete Perspektive zu entwickeln, werden sie sich ihres Mitgliederzuwachses nicht lange erfreuen können. Zwar können auch die Arbeitgeberverbände kein tragfähiges Konzept vorlegen. Außer der permanenten Forderung nach Sozialabbau fällt ihnen nichts ein, womit sie die deutsche Wirtschaft in die Zukunft führen wollen. Doch im Moment sitzen sie noch am längeren Hebel. Und ein zweites Mal wird Schrempp nicht so dumm sein. Annette Jensen

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