: Vom Nutzen der Lüge im Alltag
Er hatte den besseren Blick: Bevor Billy Wilder Hollywood eroberte, war er in Berlin Eintänzer und später Journalist. Nun sind seine Feuilletons aus den zwanziger Jahren neu erschienen ■ Von Michael Bienert
Mit sechs Oscars und 22 Nominierungen gehört Billy Wilder zu den erfolgreichsten Regisseuren der Filmgeschichte. Aber was zählt das schon, verglichen mit der anhaltenden Liebe der Cineasten? Was seinen Nachruhm garantiert – das Gespür für die Komik zwischenmenschlicher Konstellationen, für den Wahnwitz des modernen Alltags, für perfekte Dramaturgie und die zündende Pointe – findet sich schon in den Zeitungsartikeln, die er zwischen 1927 und 1930 für Berliner Blätter schrieb, Reportagen, Feuilletons, Filmkritiken und Porträts. Eine Auswahl ist jetzt erstmals als Buch erschienen, und es ist dem Herausgeber Klaus Siebenhaar hoch anzurechnen, daß er dem zögernden Autor, der 90jährig in Beverly Hills lebt, mit viel Fingerspitzengefühl die Genehmigung zur Wiederveröffentlichung seiner publizistischen Jugendsünden abgeluchst hat.
Von Galizien, wo Samuel Wilder 1906 geboren wurde, bis Beverly Hills war es ein weiter Weg. Wie für so viele Ostjuden auf Wanderschaft führte die Reise über die Zwischenstationen Wien und Berlin. In Wien ging Wilder aufs Gymnasium und studierte drei Semester Jura. Danach verdiente er sein Geld als Interviewer, Sport- und Kriminalreporter (ähnlich begann wenige Jahre zuvor Joseph Roths literarische Karriere). 1926 wechselte Wilder nach Berlin, aber es gelang ihm nicht gleich, im publizistischen Betrieb Fuß zu fassen. Notgedrungen verdingte er sich als Eintänzer im noblen Hotel Adlon am Pariser Platz, eben dort, wo gerade der gleichnamige Nachfolgebau für die im Krieg zerstörte Hotellegende hochgezogen wird.
Eintänzer sein, das hieß tanzen, tanzen, tanzen, und bitte immer recht freundlich, egal ob der 20jährige Jüngling eine fettleibige Matrone, ein abgemagertes Knochengerüst oder einen schüchternen Backfisch übers Parkett schleifte. Ein glücklicher Zufall führte ihm die Schauspielerin Carola Neher in die Arme, die leicht und gut tanzte, ihr Mann saß am Rande des Tanzparketts und sah sehnsüchtig zu: der Dichter Klabund, den zwei Jahre später die Tuberkulose dahinraffte. Er sprach den Eintänzer an und bat ihn, etwas über das Hotelleben aufzuschreiben, er wolle es schon in einer Zeitung unterbringen.
Drei Tage schwänzte Billy den Tanzboden und schrieb: „Sonnabend ist der schlimmste Tag für den Tänzer. Alle Säle sind bis auf das letzte Plätzchen voll. Auf dem Parkett drängen sich 50 Paare, treten einander auf die Füße, keuchen und boxen. Eine einzige Fleischmasse, im Rhythmus wie Sülze zitternd. Es ist der Tag, an dem der Eintänzer ein paar Pfunde von seinem Gewicht verliert, aber meist nicht einen Pfennig verdient.“ Eine lange Geschichte, aufgelöst in knapp umrissene, pointierte Einzelszenen, fast schon ein Drehbuch. Die B.Z. am Mittag, ein Boulevardblatt, druckte die Erzählung in vier Folgen: Welche heutige Zeitung traut ihren Lesern einen so langen Atem zu?
Einmal im Geschäft, schob der junge Feuilletonist Betrachtungen über den Nutzen der Lüge im Alltagsleben, den Geruch von Streichhölzern, die Berliner Rendezvouskultur und das Versagen der Straßenreinigung nach. Die Redaktion des angesehenen Berliner Börsen- Couriers beauftragte ihn mit literarischen Porträts. Sie schickte ihn zur ältesten Berlinerin, deren ganze Situation Wilder mit einem einzigen Satz umriß: „Das Geburtstagskind, dem heute Moabits Aufregung gilt, um das sich alle Gespräche drehen, dem man Blumen ins Zimmer trägt, kleine Geschenke, die von Herzen kommen, liegt in einem schneeweißen Bett, der zahnlose Mund lächelt, alle Blicke aus den rotumränderten, doch aufgeweckten kleinen Augen streicheln den Eindringling und sehen ihn an, als wollten sie sagen, ich freue mich, daß du dich freust, daß ich heute den 100. Geburtstag habe.“
Es ist kein neues Bild vom vergangenen Berlin, das in Wilders Texten aufscheint. Aber in ihrer sprachlichen Präzision und Wahrnehmungsschärfe reichen sie an die Kurzprosa großer Feuilletonisten wie Auburtin, Polgar oder Roth heran. Das hebt sie weit über die Masse der Reportagen, die damals und heute die Zeitungsspalten füllen. Man fragt sich, was aus Wilder geworden wäre, wenn es kein Kino gegeben hätte und keine Nazis, vor denen er zunächst nach Paris floh und die seine Angehörigen vergasten. Wahrscheinlich ein Prosaist von Rang und vielleicht ein grandioser Theaterdichter.
Seine Qualitäten als Reporter und Literat hat Wilder statt dessen dem Film geschenkt. Er schrieb das Drehbuch für den schönsten Berlinfilm der 20er Jahre: „Menschen am Sonntag“. Eine Off-Produktion, fast ohne Geld unter freiem Himmel mit Laienschauspielern gedreht. Ein Manifest gegen alle Verlogenheiten in der damaligen Kinoproduktion. Die ganze Filmbranche lachte über das Projekt, aber Wilder hatte den besseren Blick.
Der Erfolg machte ihn zum gefragten Drehbuchautoren. Erst viele Jahre später führte er zum ersten Mal Regie. Die jetzt erschienene Feuilletonsammlung ist Wilders erstes Buch, und sie wird wahrscheinlich sein einziges bleiben. Schade.
„Der Prinz von Wales geht auf Urlaub. Berliner Reportagen, Feuilletons und Kritiken der zwanziger Jahre“. Verlag Fannei und Walz, Berlin 1996. 160 Seiten, 28 DM.
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