: Hakenkreuzwege
■ Die „Neue Anständigkeit“ zeigt eine fiktive Nazi-Familienbiographie
Deutsche Geschichte, extrem komprimiert: in neunzehn Zei-tungsannoncen der Münchner Familie Hans und Sieglinde Hartmann von 1934-1946 spiegelt sich nationalsozialistischer Aufbruch, seine erst lukrativen, dann tödlichen Konsequenzen und die halbherzige Verarbeitung seiner Folgen.
Angeblich vor kurzem auf einem Münchner Dachboden entdeckt, verweisen die ins handgefertigte Büchlein eingeklebten Ausschnitte auf ein Leben, das sich in germanischen Rassenidealen gründet und an enteignetem jüdischem Besitz bereichert, bis „Pg Hans Mjölnir Hartmann, SA-Oberscharführer, Sturm Walhall/IV...“ etc. 1943 im Felde stirbt, in „heldenhaftem Kampf gegen den asiatischen Weltfeind, der ruchlos in unsere stillen Fluren eingebrochen war...“.
Diese Obermenzinger Metamorphose wird als Originalbüchlein und in achtzehn Seiten-Reproduktionen in Hamburg von der Berliner Künstlerorganisation Neue Anständigkeit präsentiert. Auch wenn manche Jüngere die Diktion jener Jahre kaum mehr richtig verstehen - die Kurztexte sind viel zu überspitzt, um echt zu sein. Auf Nachfrage wird zugegeben, daß es sich um einen Fake handelt: Erst 1947 hätte ein unbekannter Künstler aus Berliner antifaschistischen Kreisen dieses Album als Lehrstück produziert. Der „Hakenkreuzweg einer deutschen Frau. Eine bevölke-rungspolitisch wertvolle Tragödie in neunzehn Inseraten“ (Titelblatt in deutscher Schrift) wird mit dieser historischen Doppelfiktion in einen mehrfachen Bedeutungskokon eingesponnen.
Doppelbödige Argumentation zeichnet auch alle übrigen Publikationen der Neuen Anständigkeit aus. Teils radikale, teils nebulöse Politsprache macht jeden Text der Gruppe zu einer Achterbahn zwischen den Wirklichkeiten. Aufklärend will die Neue Anständigkeit wirken, den massenhaft verblödenden Verlautbarungen aus Politik, Werbung und Kultur setzt sie ihre mehrschichtig schillernden Texte entgegen. 1995 organisierte sie dankenswerterweise die einzige Gegendemonstration zum Kirchentag in Hamburg: Prompt gab es Beschimpfungen wie „Satanisten“ und „Ab ins KZ“.
Wer mit der Künstlergruppe direkt Kontakt aufnehmen will, wende sich an die „Ständige Vertretung der Neuen Anständigkeit“ in Berlin (Ost), Fehrbelliner Straße 31.
Hajo Schiff
„Obermenzinger Metamorphose“: Foyer des B-Movie, Brigittenstr. 5, tägl. 16-20 Uhr, bis 19. Januar
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