: Total normal
■ Die Grünen reden auch mit dem Bundeskanzler
Jahrelang war es der ausgewiesene Daseinszweck der Bündnisgrünen, eine Alternative zu sein. Und jahrelang wurde ihre Entwicklung danach bewertet, welches Maß an Normalität sie jeweils erreichten. Dieser Widerstreit von Identität und Faktizität war Treibsatz der berüchtigten parteiinternen Streitkultur. Mittlerweile ist das Maß voll. Die Bündnisgrünen sind nicht nur in dieser Republik angekommen, womit einige schon die letzte Brennstufe erlöschen sehen, nun sind sie gar bei Kohl gelandet, weshalb andere bereits meinen, sie seien über ihr Ziel hinausgeschossen.
Sie sind es nicht. Diese letzte Bewegung, die die Parteisprecher Gunda Röstel und Jürgen Trittin gestern in das Amt des Kanzlers führte, war weniger eine der Grünen, sondern eine des Hausherren. Nicht daß die Grünen zu Kohl gehen ist die Nachricht, sondern daß der Kanzler mit ihnen spricht. Bei den Bündnisgrünen vermag die klandestine Visite allenfalls neue Spekulationen über die Kleiderunordnung der beiden Leitwölfe Fischer und Trittin nähren, der schwarz-grüne Diskurs wird dadurch kaum Impulse erhalten. Die Bündnisgrünen stehen bis auf weiteres eckarttreu zu Rot-Grün.
In der CDU hingegen wird dem Bild der Irritationen, das in den letzten Wochen vom Vorsitzenden gezeichnet wurde, eine weitere Facette hinzugefügt. Jeder in der Partei spürt eine Verschiebung, doch noch kann keiner die Richtung orten. Die Personalfrage stellt sich allen, obgleich sie keiner gestellt haben will. Bei den Reformprojekten herrscht Uneinigkeit. Je enger die einen zu den Liberalen rücken, desto näher fühlen sich die anderen der Sozialdemokratie. Koalitionsvarianten werden halboffen diskutiert, dieweil umkränzt Kohl die Bündnisgrünen nach Jahren der paternalen Ignoranz offen mit den Weihen eines akzeptierten politischen Gesprächspartners. Das öffnet Interpretationen die Tür, wo es nach dem Willen der Partei gilt, Geschlossenheit und vor allem Entschlossenheit zu zeigen. Doch wer ist dazu bereit?
Ein Standpunkt wird von Kohl erwartet, wo dessen Stehvermögen immer geringer wird, Klarheit gefordert, wo er sein Nichttun deuten läßt. Vor dieser Folie gewinnt das Grünen-Treffen seine Bedeutung. Nicht als Orientierung, sondern als Zeichen der Desorientierung. Dieter Rulff
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