: Als Vera Lengsfeld und andere in die CDU eintraten, wurde ihnen Verrat vorgeworfen. Doch wer hat da wen verraten? War die 89er Revolte eine linke Bewegung? Was eint diese Bewegung heute? Widerstand gegen die PDS? Eine Standortbestimmung von
tageszeitung: Bezeichnen Sie sich noch als Bürgerrechtler?
Reich: Die Bürgerbewegung ist ein Bündnis auf Zeit in der untergehenden DDR gewesen. Es hat seine Ziele im wesentlichen erreicht und hat sich dann politisch ausdifferenziert.
Birthler: Die Bürgerbewegung der DDR gibt es nicht mehr, weil es die DDR nicht mehr gibt. Es gibt bei den Beteiligten ein nicht unwichtiges Stück gemeinsamer Geschichte, von daher ist eine Grundsolidarität spürbar. Aber die politischen Traditionslinien, die Grundhaltungen, Zielsetzungen und Werte waren sehr veschieden. Das hat sich in den letzten Jahren noch verstärkt.
Neubert: Es gab sowohl eine sich auf sozialistische Traditionen berufende kollektive Menschenrechtsauffassung als auch Gruppen, die an Freiheits- und Demokratiewerten orientiert waren. Die inhaltlichen Konflikte sind allerdings nie ausdiskutiert worden.
Aber allen gemein war der Glaube an die Reformierbarkeit des Systems.
Birthler: Ich habe noch 1989 zusammen mit Eppelmann eine Solidaritätserklärung für die chinesischen Demokraten verfaßt, die endete: „Wir hoffen mit Euch auf einen demokratischen Sozialismus“. Das war der für uns denkbare Handlungsrahmen.
Reich: Es bestand ein unausgesprochener Konsens über die Reformierbarkeit der DDR.
War das innere Überzeugung oder taktisches Zugeständnis?
Reich: Es war gar nicht anders zu denken.
Birthler: Noch bei der großen Demonstration am 4. November war die Abschaffung der DDR kein Thema. Das ist zwar im nachhinein betrachtet ein wenig rätselhaft, aber an diesem Punkt bestand eine Grenze des Denkens.
Neubert: Es war auch die Verinnerlichung der äußeren Bedingungen. Alle, die weitergingen, waren ganz schnell im Westen. Der demokratische Sozialismus war die subversive Leitidee, die sich durch die Geschichte der DDR zog, es war die Chiffre, unter der man versuchte, die DDR zu verändern.
Birthler: Für uns war nicht die DDR links. Wir waren die wahren Linken.
Herr Neubert, waren Sie auch so ein wahrer Linker?
Neubert: Für mich war die Emanzipation des Individuums mit linkem Gedankengut verbunden.
Waren die Grünen deshalb der originäre Ansprechpartner der Bürgerbewegung?
Neubert: Nicht für alle.
Birthler: Wenn überhaupt eine Partei des Westens enge Kontakte zu den verschiedenen Oppositionsgruppen der DDR hatte, dann waren es die Grünen.
Haben Sie sich mit ihrem Eintritt in die CDU denn „traditionswidrig“ verhalten?
Neubert: Traditionswidrig ja, wenn man unsere Position von vor 1989 als ewig gültige Norm betrachtet. Bärbel Bohley hat 1987 die Devise ausgegeben: Gesellschaft von unten aufbauen. Das entsprach 1989 einem weit verbreiteten Verständnis. Doch in dem Maße, wie die Interessenvertretung über die Parteien möglich wurde, waren die basisdemokratischen Positionen keine politische Orientierung mehr.
War denn die Bürgerbewegung in ihrer Entwicklung offen für das gesamte bundesrepublikanische Parteiensprektrum?
Reich: Ja. Das setzte sofort ein, als die Mauer fiel. Das Neue Forum war offen nach allen Seiten. Dort wurden selbst die Genossen aufgefordert, mitzumachen. Alle Strömungen existierten nebeneinander. Von Anfang an gab es Leute, die Richtung CDU strebten. Andere bezeichneten sich als Liberale. Wir hatten später in allen Parteien Leute, die ich aus der Anfangsphase des Neuen Forums kannte.
Das klingt so, als sei die Entwicklung hin zu den Parteien zwangsläufig und richtig gewesen.
Reich: Ganz und gar nicht. Ich halte das westdeutsche Parteiensystem für nicht fähig, langfristige Zukunftsfragen der Gesellschaft zu lösen. Die Zyklen der Wahlen und Wahlkämpfe, die Systematik, nach der alle politischen Probleme als Interessenkonflikte von Gruppen ausgetragen werden, führt dazu, daß bei Grundsatzproblemen nur gefragt wird: Was bringt mir das aktuell? Was nutzt es meiner Klientel? Auf diese Weise wird langfristigen Themen und herannahenden Krisen nicht adäquat begegnet.
Birthler: Du mußt dich allerdings fragen, was die Ursachen für diese Inkompetenz der Parteien ist. Daß sie so viel Raum einnehmen, daß es jenseits der Parteien kaum politische Debatten gibt, liegt in der Verantwortung aller.
Neubert: Natürlich sind die Parteien nicht in der Lage, alle gesellschaftlichen Probleme zu lösen. An dieser Erwartung die Parteien zu messen ist Ausdruck intellektueller Überheblichkeit gegenüber den Parteien.
Sie sind „Vernunftparlamentarier“?
Neubert: Geworden. Ich bin ernüchtet. Moral muß man zwar mitbringen, aber es ist noch kein Gestaltungsprinzip. Machen Politiker Moral zum Programm, kommt eine Liebesdiktatur heraus.
Reich: Man kann für eine Reform des parlamentarischen Systems kämpfen. Wenn allerdings eine ernste Krise der Gesellschaft droht, dann wird sie nur gelöst, wenn sich eine Bürgerbewegung der Bewußten bildet. So groß ist der Leidensdruck allerdings noch nicht.
Ist der demokratische Impuls der Bürgerrechtler nach 1990 durch die Notwendigkeit, sich in einer neuen Wirklichkeit zurechtzufinden, zerrieben worden?
Birthler: Die Vereinigungspolitik nach 89 hatte eine starken Einfluß darauf, wie die Leute im Osten auf demokratische Strukturen reagieren. Da gab es Deklassierungen und Beschämungen, und das verträgt sich nicht mit Bürgerwürde und demokratischer Grundüberzeugung.
Reich: Allerdings hat auch ein Umschlag der Eingabe-Mentalität der späten DDR in eine gesamtdeutsche Staatsauffassung stattgefunden. Ein Versorgungsanspruch, der in die geradezu diktatorische Erwartung mündet, daß alles in Bonn geregelt werden muß. Das führt in die Nische zurück.
Birthler: Die vormundschaftliche Tradition ist ungebrochen. Die Folge ist, daß die große Mehrheit der Ostdeutschen konservativ wählt: entweder CDU oder PDS.
Müssen Sie, wenn Sie die Staatsfixiertheit in Ostdeutschland kritiseren, nicht im Auge behalten, daß der „Rückzug des Staates“ leicht zu einem anderen Wort für Sozialabbau wird?
Birthler: Wir sprachen über die Demokratieentwicklung im Osten. Das heißt überhaupt nicht „Weg vom Staat“, heißt nicht, den Staat aus der Verantwortung zu entlassen. Wenn wir die dramatischen Fehlentscheidungen der Regierung auf sozialem Gebiet erfolgreich bekämpfen wollen, brauchen wir mehr Demokratie, nicht nur auf der Parteischiene. Viele Leute müssen Politik zu ihrem Thema machen. Es reicht nicht, auf „die da oben“ zu verweisen.
Neubert: Klar, politische Entscheidungen wirken sich auf das Verhältnis der Menschen zur Demokratie aus.
Birthler: Dann laß uns doch über konkrete Politik reden.
Neubert: Aber gerade im Osten existiert keine politische Kultur, wurden demokratische Werte nie verinnerlicht. Für die Ostdeutschen steht Sicherheit und Geborgenheit an erster Stelle, die Freiheit als Wert ist ein Anhängsel. Hier würde ich gerne eine Konfliktlinie aufmachen. So unangnehm es ist, daß nicht mehr soviel verteilt werden kann, daß sozial abgebaut werden muß – daraus folgt doch nicht das zusätzliche Übel, daß man die politische Demokratie ablehnt.
Birthler: Niemand tut das hier, allerdings stelle ich eine Menge grundsätzlich in Frage: an konkreter Politik. Hier drängt sich mir eine sonderbare Parallelität zwischen der CDU und der PDS auf. Beide Parteien versuchen, die Probleme von morgen mit den Rezepten von vorgestern zu lösen.
Neubert: Das muß ich natürlich zurückweisen.
Birthler: Natürlich.
Herr Reich, unter welchen Bedingungen rechnen sie mit einer neuen Bürgerbewegung, die den Parteien Beine machen könnte?
Reich: Ich bin kein Prophet. Aber mir scheint wahrscheinlich, daß es unter den entwickelten, zivilisierten Ländern wieder Volks- bzw. Bürgerbewegungen geben wird. Übrigens auch solche, über die ich mich nicht freuen würde.
Birthler: Es gibt auch Bürgerbewegungen, die Asylheime anzünden.
Reich: Denken Sie z.B. an Serbien, wo sich jetzt sogar eine Bürgerrechtsbewegung gebildet hat. Diese Bewegungen konzentrieren sich in der Regel auf wenige Themen, oft auf ein einziges. Sie haben spontanen Chrakter, existieren, bis sie zerschlagen werden oder ihr Ziel erreichen. Eine prinzipielle Reform wie die ökologische Umgestaltung der Industriegesellschaften des Nordens wird nur auf diesem Wege in Gang kommen. Durch einen emotionalen Anstoß. Den Menschen fällt es wie Schuppen von den Augen: So muß es sein! Die verfestigten Parteistrukturen, die Stellungskriege werden eine Zeitlang aufgelöst werden. Das ist die opimistische Variante. Ich kann mir auch eine pessimistische vorstellen.
Birthler: Der Lösung dieser Probleme werden wir uns nur nähern, wenn die richtigen Fragen gestellt werden. Davon ist die Öffentlichkeit noch ziemlich weit entfernt. Die Besitzstände in der Bundesrepublik und im westlichen Europa stehen gerechten politischen Lösungen entgegen. Für Deutschland kommt die Frustration der Ostdeutschen hinzu, die darüber klagen, daß sie ausgerechnet zu einem Zeitpunkt sich mit dem Westen vereinigten, wo die fetten Jahre dort vorbei waren. Wohingegen die Westdeutschen den Ostdeutschen für eben diesen Umstand die Schuld in die Schuhe schieben. Ich kann mir vorstellen, daß wir Lösungen erst dann in Angriff nehmen können, wenn die Angst vor diesen Fragen, die wirklich weh tun, abgebaut wird. In der Erfurter Erklärung wird dringend nach Veränderung gerufen. Dann berufen sich die Initiatoren auf die 50er Jahre – da sei es schließlich auch gegangen. Damals schrieb man gigantische Wachstumszahlen, da ließ sich leichter verteilen. Wer heute mit der Forderung nach Gerechtigkeit die damalige Zeit beschwört, sitzt auf dem falschen Dampfer.
Woher kommt der Impuls für politische Veränderungen? Herr Reich war der Ansicht, er kommt in erster Linie aus der Gesellschaft. Frau Birthler stellte stärker auf das politische System ab.
Bithler: Das kann man doch nicht so gegeneinanderstellen! Ich sehe gegenwärtig keine Alternative zum Parteiensystem. Was nicht heißen soll, daß dieses System sich nicht verändern muß. Aber das genügt nicht. Und ist es nicht so, daß diejenigen Kräfte, die die politischen Parteien herausfordern, die Öffentlichkeit herstellen könnten, auch einen sehr ausgedehnten Winterschlaf halten? Die politischen Parteien sich selbst zu überlassen, Verantwortung dort hinzuschieben, festzustellen, daß die es nicht packen, das ist allemal der bequemste Weg.
Neubert: Die politischen Parteien können solche grundsätzlichen Umorientierungen allein in der Tat nicht schaffen. Jede Regierung wird die schon genannten Probleme – Steuern, Renten, die ungleichmäßige Entwicklung in Europa – mit sich herumschleppen und bei der Lösung auf Grenzen stoßen. Die Frage kann nur lauten: Wer macht's besser. Aber es gibt doch um die Parteien jede Menge wissenschaftlicher Gremien, die Zukunftskommissionen sprießen aus dem Boden. Und es gibt einen starken Druck, daß Neuansätze, neue Lösungen sich durchsetzen. Die Grünen hatten Glück, daß sich eine neue Problemlage, die ökologische, und neue Lösungsansätze sich erst in einer Bewegung, dann in einer Partei sedimentierten. Heute ist das gesamte politische Feld angesichts neuer Problemlagen herausgefordert.
Birthler: Man muß nicht alles neu erfinden. Für praktikable, ausgereifte Ideen wie die der Öko- Steuer fehlen einfach die parlamentarischen Mehrheiten. Hier kommt es darauf an, daß solche Projekte auch die Zustimmung der Bevölkerung finden, die ihrerseits wieder die parlamentarischen Mehrheiten verändert. Das ist die Schnittmenge dessen, was die politischen Parteien zu leisten haben und die Öffentlichkeit zu leisten hat.
Wenn Sie als Ex-Bürgerrechtler Parteienübertritte so cool beurteilen, wie kommt es dann, daß der Übertritt von fünf ihrer ehemaligen Mitstreiter zur CDU mit solcher Leidenschaft kommentiert, im Milieu der Bündnisgrünen mit unter sogar als Verrat angesehen wurde?
Reich: Ich habe keine aufgeregten Reaktionen beobachtet
Birthler: Ich war schon verärgert. Das betraf Vera, denn von ihr gab es keinerlei Versuch, bei den Bündnisgrünen zu thematisieren, was sie bedrückte. Wir sind ein Stück Weg gemeinsam gegangen, seit den Tagen der Volkskammer. Während dieser Zeit gab es eine gemeinsame, negative Einschätzung der CDU-Politik. Hier liegt offensichtlich ein Bruch mit politischen Überzeugungen vor. Daß jemand die Bündnisgrünen verläßt, o.k., kann ich nachvollziehen. Aber zur CDU? Da muß viel Wut mit im Spiel gewesen sein.
Neubert: Veras Schritt brauche ich nicht zu rechtfertigen, das kann sie ganz gut selber tun. Ich wollte daran erinnern, daß wir nicht als einzelne, sondern als Gruppe diesen Schritt – den Eintritt in die CDU – diskutiert und vollzogen haben. Für uns alle war das ein logischer Schritt. Der Differenzierungsprozeß wird weiterlaufen, auch von der anderen Seite her. Schließlich gibt es bei den Bündnisgrünen genügend Linke, die meinen, daß noch zu viel falsche Leute in der Partei sind. Außerdem: die jetzt zur CDU übergetreten sind, haben das nicht getan, um den Politikern in anderen Parteien, die mit der PDS nichts am Hut haben, eins auszuwischen.
Immerhin war die Hauptlosung das Remake „Freiheit oder Sozialismus“.
Neubert: Das Bewußtsein gegenüber der PDS schleift sich ab. Hier wollten wir ein Signal setzen, deshalb unsere Aktion als Gruppe.
Deshalb dramatisierten Sie?
Neubert: Wir wollten, daß die PDS-Frage noch mal richtig auf den Tisch kommt. Eigentlich sind wir auch bestätigt worden. Zeitgleich erschien die Erklärung Wolfgang Thierses, einige Zeit später kam die „Erfurter Erklärung“ raus. Wir haben seit einem Jahr über die schleichende Nachlässigkeit in der Öffentlichkeit gegenüber der PDS und der DDR-Vergangenheit diskutiert, dann folgte unser Schritt. Er hat sich als nur zu berechtigt herausgestellt.
Gut, aber was hat Sie, Herr Neubert, zur CDU gebracht?
Neubert: Es gibt keine Handlungsvariante für die CDU, mit der PDS zusammenzugehen. Das würde im Westen vielzuviel Vertrauensverlust mit sich bringen.
Das ist das Hauptmotiv?
Neubert: Wenn man es auf die PDS-Frage reduziert, ja. Allerdings sehe ich zudem, daß die CDU durchaus fähig zu einer Politik der Reformen ist.
Bei der Analyse der ostdeutschen Situation haben Sie der Demokratiefrage einen hohen Stellenwert gegeben. Nun weist die CDU nicht gerade eine demokratische Struktur auf.
Neubert: Ich sehe überhaupt nicht, daß die CDU keine demokratische Partei wäre. Es gibt eine starke Fixierung der Partei auf eine Person, das schon. Aber in der CDU laufen die demokratischen Prozesse mit allen Verwerfungen und innerparteilichen Kämpfen, wie in anderen Parteien auch.
Sie meinen, Sie können in der CDU etwas bewirken?
Neubert: Ich werde mich an der inhaltlichen Debatte beteiligen und selbstverständlich in der Demokratiefrage engagieren. Ich werde mich vor allem im Osten engagieren, damit die CDU dort konfliktfähiger wird und die alte ostdeutsche Harmonie aufgibt.
Birthler: Sag doch mal was zu den Blockflöten.
Neubert: Die Gleichsetzung der CDU mit der alten Blockpartei weise ich ganz energisch zurück. 1990 war das der Grund, weshalb ich nicht in die CDU eingetreten bin. Doch mittlerweile ist die alte Funktionärsebene weg. Es sind zudem damals viele Leute in die Block-CDU aus ganz unpolitischen Motiven eingetreten, sei es wegen der LPG, sei es weil sie nicht in die SED wollten. Außerdem ist die Ost-CDU in der Gesamt-CDU in einer anderen Situation, mit der PDS-Frage also nicht gleichzusetzen. Ich wünsche mir nur, daß sie politischer wird. Es ärgert mich, wenn brandenburgische Landtagsabgeordnete der CDU, nachdem sie ein kritisches Wort zum Ministerpräsidenten gesagt haben, sich dafür entschuldigen.
Die Regierungspraxis der CDU stellt für Sie kein Hindernis dar?
Neubert: Kein Hindernis. Wenn ich da unüberwindliche Schwierigkeiten gesehen hätte, hätte ich es nicht gemacht.
Birthler: Gibt es überhaupt etwas, was du ändern wolltest?
Neubert: Ich würde mich in der ABM-Frage engagieren. Es dürften auf keinen Fall privatwirtschaftliche Kleinstrukturen geschädigt werden.
Birthler: Ich dachte eher an unsere traditionellen Themen wie Menschenrechte, Ausländerpolitik.
Neubert: Der Widerspruch zwischen moralischer und pragmatischer Politik muß thematisiert werden.
Birthler: Ich werfe euch vor, daß ihr euch an einem Spiel der CDU beteiligt oder es wenigstens unterstützt. Es ist offensichtlich, daß die CDU ihre Regierungsmehrheit verlieren wird, wenn die PDS nicht mehr in den Bundestag kommt, also hat die CDU ein großes Interesse, daß die PDS es wieder schafft. Ein System kommunizierender Röhren. Was die Leute umtreibt in der PDS-Frage, ist diese faktische Blockade einer Reformpolitik. Ein zweites Motiv der Aufregung: Soll eine Partei an der Staatsmacht beteiligt werden, die in der Nachfolge der SED-Diktatur steht?
Warum setzen Sie, Frau Birthler, ein Gleichheitszeichen zwischen SED und PDS?
Neubert: Dieses Gleichheitszeichen müssen Sie in vieler Hinsicht setzen. Aber die Sache mit der PDS ist schlimmer, als die mit der SED es war. Damals war klar, wer die Macht hatte und wie er sie ausübte. Es gab keinen Raum für Täuschungen. Heute setzt die PDS an der Politikverdrossenheit an, an den Schwierigkeiten der Ostdeutschen, die überhaupt nicht zu bestreiten sind. Sie posiert als Interessenvertretung, arbeitet aber an der Erosion des demokratischen Systems.
Birthler: Daß die PDS nicht identisch mit der SED ist, liegt auf der Hand. Sie mußte sich verändern. Dennoch gibt es entscheidende Kontinuitäten: personelle und institutionelle. Ich bin keine Historikerin, aber ich glaube die These stimmt, wonach ein Paradigmenwechsel für ein Kollektiv noch viel schwerer ist als für ein Individuum. Rücksicht auf die Vergangenheit ehemaliger Funktionsträger in der SED ist ein ganz starkes Motiv für viele PDS-Mitglieder, vor der Kritik des SED- Staats zurückzuschrecken. Denken Sie an den legendären Satz aus der Mitte der Bundestagsfraktion der PDS: „Die DDR war weder ein Rechts- noch ein Unrechtsstaat, weil es in ihr sowohl Recht als auch Unrecht gab.“ Warum kommt es zu so einem Satz? Weil bei Strafe der politischen Karriere es in der PDS niemand wagen darf, sich mit den früheren SED-Vertretern auseinanderzusetzen. Die PDS ist anders als die SED, aber sie ist keine erneuerte Partei. Dafür gibt es keine ausreichenden Indizien.
Reich: Das ist für mich auch eine Frage der Lebenswelten. Wenn ich bei uns Mittag essen gehe, dann ist jeder zweite, den ich treffe, PDS-Wähler, und jeder fünfte ist ein PDS-Mitglied. In meinem Wahlkreis waren die meisten Stimmen für die PDS. Ich lebe also in einer PDS-Umgebung, da fühle ich mich nicht heimisch, das ist Juckpulver im Kragen für mich. Aber ich kann mir meine Arbeitskollegen nicht danach aussuchen, ob sie der PDS nahestehen oder nicht, sondern die werden nach Leistungskriterien ausgesucht. In meiner Umgebung sind keine Seilschaften an der Macht, alle Funktionsträger sind abgewickelt. Eine Reihe von Nichtfunktionsträgern sind im Überlebenskampf, sogar Leute, die in der Bürgerbewegung engagiert waren, sind ohne Stellen. Ich habe ein gelassenes Verhältnis zur PDS. Wir haben ihnen 89 versprochen, daß sie mit ins demokratische Deutschland können. Es war ein Moment des friedlichen Übergangs. Und jetzt müssen diese Menschen in der Situation in der sie sind, angenommen werden. Und auch wenn viele die PDS wählen, muß das hingenommen werden. Wenn das zu einer Gefahr für die Demokratie hochstilisiert wird, dann aus wahltaktischen Gründen.
Sie sehen keine Gefahr?
Reich: Ich halte das für ein Randproblem, Folge dessen, wie die Vereinigung gelaufen ist. Diese dumme Arithmetik haben wir der Übernahme der westdeutschen Wahlbestimmungen zu verdanken. Ergebnis: eine Regionalpartei wird zum Zünglein an der Waage. Eine unangenehme Situation, mit der wir fertigwerden müssen. Mir ist in diesem PDS-Milieu die Fixierung auf die DDR, der Negativismus, der Etatismus, mit dem auf den Staat gestarrt wird, zuwider. Aber die PDS hat, wo das Ergebnis von Wahlen das gebietet, nicht nur ihren Platz in den Kommunen, sondern auch in den Landesregierungen. Das wird sich nicht verhindern lassen. Hier gilt es einfach, die Spielregeln der parlamentarischen Demokratie zu akzeptieren. Wenn in den neuen Bundesländern absolute Mehrheiten verlorengehen, muß sich die SPD für die große Koalition oder dafür entscheiden, mit der PDS zu koalieren bzw. sich tolerieren zu lassen. Ich kann mich über diese Perspektive nicht besonders aufregen.
Neubert: Die PDS hat weit über ihre politische Statur hinaus in den neuen Ländern gesellschaftlichen Einfluß, stellt eine gesellschaftliche Kraft dar. Der Grund: Sie haben über viele Jahre hinweg ihre Eliten herangezogen und andere ausgegrenzt. Mit dieser Präsenz muß man fertigwerden. Ich bin für gesellschaftliche Integration, finde es aber falsch zuzulassen, daß die gesellschaftliche Kraft der PDS mit der politischen in der Gestalt von Koalitionen kombiniert wird. Gegenüber dieser geballten Kraft und Methodik gilt es, andere politische Mittel einzusetzen. Hier ist auch Taktik erforderlich, vor allem da, wo die Option CDU zu schwach ist. Man muß der PDS das Leben schwermachen.
Reich: Das Grundgesetz schreibt nicht vor, daß jede Partei an der Regierung sein muß, das stimmt.
Neubert: Wir wollen die PDS nicht ausgrenzen, dieser Vorwurf kommt zwar gut, ist aber ein Mythos. Wir sind gegen Koalitionen mit ihr.
Man kann den Begriff „Ausgrenzung“ hier sinnvoll nur in der politischen Sphäre verwenden. Kein Mensch schlägt vor, einem PDSler morgens nicht die Hand zu geben.
Neubert: Ich sehe nicht, daß die PDS ausgegrenzt wird.
Haben die ehemaligen Bürgerrechtler eine besondere Kompetenz, über die Frage der PDS bzw. der Vergangenheit der DDR zu urteilen?
Reich: Ich finde, sie werden sogar auf diese Rolle reduziert. Bezüglich IMs sollen sie mitreden, ansonsten werden sie marginalisiert. Ich habe Schwierigkeiten, da mitzuspielen.Jeder, auch jeder Wessi, ist aufgefordert, sich die PDS anzugucken, ihre Struktur zu analysieren. Es gibt keinen privilegierten Zugang für ehemalige Bürgerrechtler.
Birthler: Ich habe mich in den Jahren seit 89 mit sehr vielen Themen beschäftigt. Jetzt, wo ich das erstemal von der taz eingeladen bin, geschieht das ausgerechnet zum Thema „Bürgerrechtler und PDS“. Das ist kein Zufall. Als ich bei den Bündnisgrünen Sprecherin des Bundesvorstandes war, war mein Kollege Vollmer allzuständig, ich wurde bestensfalls zitiert, wenn es um Ostdeutschland ging, in der Regel aber zum Thema PDS und Stasi.
Neubert: Wir können uns der PDS-Frage nicht entziehen.
Reich: Deshalb habt ihr einen Knallfrosch losgelassen und seid zur CDU übergetreten.
Neubert: Wir wollten ein politisches Signal setzen.
Reich: Das ist dasselbe.
Neubert: Hintergrund für unseren Übertritt war unser Einsatz für die Demokratie. Und daran messen wir auch die Sozialdemokratie. So kann Rosemarie Will samt ihrer Maxime „Jurist bleibt Jurist – in welchem System auch immer“ Verfassungsrichterin in Brandenburg sein.
Sie haben in der demokratisch werdenden DDR mit Frau Will zusammengearbeitet.
Neubert: Im Oktober 1989 versuchte die SED-Reformergruppe, der auch Frau Will angehörte, uns unseren zukünftigen Platz zuzuweisen. Sie wollten uns, die demokratische Opposition von der Macht fernhalten.
Birthler: Die PDS ist ein gesamtdeutsches Thema, übrigens auch ein Thema der westdeutschen Linken. Ich hasse den Satz: „Das habe ich nicht erlebt, dazu kann ich mich nicht äußern.“ Nonsens. Zurückhaltung am falschen Platz. Es gibt auch keine einheitlichen Ost- Erfahrungen. Hätten Sie drei andere Bürgerrechtler eingeladen, hätten sie drei andere Ansichten bekommen.
Neubert: Aber gab es, Marianne, nicht in den Jahren nach der Wende trotz unterschiedlicher politischer Orientierungen einen weitgehenden Komnsens, was die Bewertung der PDS und des Stasi- Komplexes angeht?
Birthler: Zur Stasi gibt es noch relativ viel Übereinstimmung, zum Arbeitgeber der Stasi nicht mehr. Wirklich gefährlich ist, daß im Osten gezischt wird, wenn von der DDR als einer Diktatur gesprochen wird. Der Satz „Wir müssen aus den Erfahrungen beider Diktaturen lernen“, der überhaupt keine Gleichsetzung von Nazi- und SED- Herrschaft enthält, wird prompt und absichtsvoll als Gleichsetzung mißverstanden. Da hört der Spaß auf.
Neubert: An der Humboldt-Uni lehren seit DDR-Zeiten und auch heute noch amtierende Professoren, die sagen: „Ich habe die DDR nicht als Diktatur erlebt.“ Von ihnen aus gesehen, haben die sicher recht. Sollen diese Wissenschaftler junge Leute unterrichten? Da schleift sich doch eine notwendige Wahrung von Bürgerinteressen ab.
Birthler: Ich sitze hier und äußere mich zur PDS, allerdings nicht mit exklusivem Anspruch und vor allem nicht kraft unserer Rolle als frühere „Opfer“ des Regimes. Ich fühlte mich nicht als Opfer in der DDR. Opfer waren und sind für mich vielmehr diejenigen Leute, die sich nicht das Stückchen „Lebendigsein“ genommen haben, wie wir das taten. Berechtigung und Verpflichtung, über die DDR- Vergangenheit zu reden, ergibt sich für uns demokratische Oppositionelle, aber auch für die anderen.
Neubert: Aber die verdrängen!
Reich: Ich beobachte die PDS mit Interesse und Verwunderung. Es ist eine wirre Mischung. Sie hat als einzige, weit über ihre politische Reichweite hinaus, die „Ost- Mentalität“ besetzt, auf dieser Geige spielt sie virtuos. Sie beutet die Stimmung aus: „Als Ostler werden wir immer untergebuttert.“ Solche Emotionen sind weder kommunistisch noch sozialistisch, auch nicht antidemokratisch. Ich höre ständig: „Wenn es etwas zu entscheiden gibt, dann sitzt dort ein Wessi. Unten scharren irgendwelche Osthühner, die Anträge entgegennehmen“. Das ist das Feld der Emotionen, das die PDS so erfolgreich beackert.
Die PDS ist auch die Partei der Einheitsverlierer. Eine Bekannte von mir wählt PDS, seit sie arbeitslos geworden ist. Sie hat nichts mit Kommunismus oder Sozialismus am Hut. Außerdem ist die PDS Sammelpunkt geschichtsmächtiger Mythen. Das stellt ein Problem für die SPD dar. „Wer hat uns verraten, Sozialdemokraten!“, die Zustimmung zu den Kriegskrediten, Liebknecht und Luxemburg kontra Scheidemann und Ebert, die Schlachten der 20er und frühen 30er Jahre. Dieser Mythenkomplex hat teils eine theoretisch elaborierte Grundlage, teils kommt er aus dem reinen Gefühl – die alten Lieder, die Rosa-und- Karl-Demos. Da demonstrieren nicht mal die Enkel Teddys. Es gibt keine politische Genealogie, aber die Mythenübertragung funktioniert trotzdem.
1990 forderte Bärbel Bohley, die PDS müsse für ein paar Jahre in die Opposition gehen. Wer entscheidet auf Grund welcher Kriterien über den „demokratischen Wandel“ dieser Partei?
Reich: Die PDS selbst muß das darstellen. Allerdings, eine öffentliche Bußveranstaltung, mit Reue und anschließender Vergebung, das zieht nicht.
Wer ist der Richter?
Neubert: Der Wähler ist der Richter.
Birthler: Ich halte von irgendwelchen Verhaltenskatalogen, nach denen sich die PDS richten soll, gar nichts. Wir sollten realexistierende Parteien sehen, wie sie sind und nicht, wie wir sie uns wünschen.
Reich: Reuebekenntnisse führen zu nichts. Da setzt bei denen sofort das Denken aus, da kommen nur Reflexe. Das ist im übrigen einer meiner Einwände gegen die Erfurter Erklärung. Man kann zur sozialen Lage eine Proklamation machen. Aber in dem Augenblick, in dem einer Koalition mit der PDS das Wort geredet wird, verschwindet bei achtzig Prozent der Leser das Anliegen und es wird nur noch über die PDS diskutiert.
Vielen Dank.
Gesprächsführung: Dieter Rulff
und Christian Semler
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